Synopse
Kindheit in Neapel. Kindsein im System. Zwischen Ringelreihen und Firmung, verirrt in den Gassen der Stadt, werden die allgegenwärtigen Spannungen der Gebote und Gebieter spürbar. Hier unterschwellig, dort offensichtlich. Ein Pflaster heilt die Wunden. Von droben schützt die väterliche Hand.
Protokoll
Vielleicht hätte zu dieser vorgerückten Stunde ein Vertreter von 3Sat im Saal sitzen sollen. Er hätte ein – zwiespältiges – Dankeschön des Filmemachers an seinen Sender entgegennehmen können. Martin Prinoth hatte nämlich das Konzept für seinen Film, das ursprünglich das Portrait eines neapolitanischen Jungen aus prekären Verhältnissen vorsah, für die inzwischen abgesetzte 3Sat-Reihe Fremde Kinder eingereicht und war abgelehnt worden. Mit der Ablehnung in der Tasche habe er sich freier gefühlt und das Recherchematerial noch einmal neu angeschaut. So habe er auch Zeit gehabt, sich Klarheit drüber zu verschaffen, wie man in dem durch Bandenkriminalität und Armut geprägten Vorort Scampia, in dem der Film spielt, überhaupt filmen kann. Eingeführt worden sei er von einem Lehrer, der ihn in Kontakt mit einigen Familien brachte. Die seien ihm mit großer Offenheit und Neugier begegnet, jedoch wurde seine Arbeit immer wieder unterbrochen, weil in den Vierteln wieder geschossen worden sei. Das habe ihm klar gemacht, dass der Film eine deutlich fragmentarische Anlage bräuchte.
Wie schließlich die Konzentration auf die beiden Brüder und ihre Familie zustande gekommen sei, möchte Jessica Manstetten wissen. Ursprünglich seien noch andere Kinder und Familien beteiligt gewesen, diese hätten aber wegen der fortdauernden Clan- Streitigkeiten ihre Häuser verlassen müssen und seien buchstäblich über Nacht verschwunden. Prinoth habe sich vornehmlich mit den Kindern beschäftigen wollen, aber ohnehin sei es äußerst schwierig gewesen, mit Erwachsenen Kontakte aufzubauen. Auch die Familie der beiden Protagonisten leide unter Arbeitslosigkeit, Gelegenheitsjobs und einem Mangel an Schulbildung. Um so erstaunlicher finden es Stimmen aus dem Publikum, dass die Feierlichkeiten zur Erstkommunion, die der Film streift, so glamourös ausgefallen seien. Prinoth relativiert: Aus Geldmangel habe man die Kommunionen der nicht Gleichaltrigen zusammen gefeiert, und die Unzahl an Armbanduhren, die einen Großteil der Geschenke ausmachten, seien billigste Imitate und schon nach wenigen Tagen defekt gewesen.
Manstetten verweist auf die starke Subjektivität des Films, die sich auch darin ausdrücke, dass Prinoth teilweise Übersetzungen nicht untertitele, sondern selbst aus dem Off einspreche. Er habe diese Vorgehensweise nicht geplant, sondern bei der Montage „aus dem Bauch heraus“ entschieden, so Prinoth. Sicher, so fiele ihm jetzt auf, habe er damit die doppelte Involviertheit, welche die große Nähe zu den Akteuren mit sich bringe, thematisieren wollen. Die starke symbolische Aufladung der Bilder, die Manstetten dann anspricht, sei für ihn vor allem eine Austreibung der Medienbilder gewesen, die er von dem Stadtteil Scampia im Kopf gehabt hätte. Diese seien von einer unglaublichen Brutalität und hätten vor allem Vorurteile bedient, die er aus seiner Südtiroler Heimat nur zu gut kenne.
Die stark assoziative Bildführung des Films finde ihren Höhepunkt in der Szene, in der der Autor sich – klassisch – im Spiegel filme, so Manstetten. Ob er sich über die starke Vorbelastung des Bildes im Klaren gewesen sei? Prinoth verstummt für einen Moment, antwortet dann mit einem „Bekenntnis“: Es sei vielleicht interessant zu wissen, dass das Stadtbild, von dem die Kamera aus auf ihn selbst schwenke, nicht Neapel sondern eine Stadt in den Emiraten sei. Es sei ihm dabei um die Evozierung eines Bilds von Stadt gegangen, das die bloße Darstellung von Neapel überschreite. Werner Ružička dankt für die „Aufdeckung der Tricks“, er habe Neapel gar nicht gesucht, und deshalb von Beginn an Bilder der Stadt an sich, von Adoleszenz als Phänomen gesehen. Darüber hinaus habe ihm die Darstellung des Religiösen, der wiederkehrende Blick nach „oben“ sehr gefallen.
Anderen Stimmen aus dem Publikum mangelt es dem Film hingegen an Klarheit. Peter Ott erkennt prinzipiell an, dass ein Kunstwerk die Freiheit habe, nach ganz eigenen Prinzipien auf Welt zu schauen. Dabei müsse es nicht um Konsistenz von Ort, Zeit und Raum gehen oder alle Entscheidungen transparent gemacht werden. Als „Dokumentarfilm-Spießer“ stelle er sich aber schon die Frage, nach welchen Kriterien Prinoth seine Bilder organisiert habe, die Musik, die ja nicht neapolitanisch, sondern kalabresisch sei, ausgewählt habe usw. Ihm sei das nicht klar geworden. Prinoth bekennt, dass er sich vor allem von seiner Intuition, seinem Gefühl habe leiten lassen. Die bohrende Nachfrage Otts, was ihn so sicher mache, dass ihn seine Gefühle nicht täuschten, blieb angesichts der fortgeschrittenen Zeit leider unbeantwortet.