Synopse
Viermal Kuba. Viermal Leben. Im System, gegen das System. Bewusst oder unbewusst. Tauben, Fische, Blogs und Feldarbeit. Ein Sich-Treiben-Lassen ins Schicksal, ins Überleben. Gesänge über einstige Ideale, die nicht aufgegeben werden wollen.
Protokoll
Wie überleben Menschen innerhalb dieses Systems? Für Charlie Petersmann die Kernfrage, als er sich nach Kuba aufmachte, um Protagonisten für seinen Dokumentarfilm zu finden. Seinen westlichen Gut/Böse-Blick musste er angesichts der Realitäten schnell ablegen, wie er im Gespräch erklärt. Entscheidend seien bei seinen Reisen schnell die Grauzonen für ihn geworden, die Komplexitäten und Ambivalenzen. Er wollte keinen politischen Film machen, sondern einen Film über Menschen, deren alltägliches Leben vom Politischen gefärbt ist. Vier Porträts hat er von der Insel mitgebracht, sehr persönlich, nah an den Protagonisten. So spannt er mit Cantos ein kleines Panorama unterschiedlicher Blickpunkte im heutigen Kuba auf.
Cristina Nord interessiert zunächst die Frage, wie sich die Arbeitsbedingungen vor Ort dargestellt hätten. Petersmann erzählt von anfänglicher Zurückhaltung der Einwohner, die sich erst Stück für Stück auf die Kamera einließen. Westlichen Filmemachern und Journalisten werde nach wie vor mit sehr viel Misstrauen begegnet. Die Frustration sei zu Beginn groß gewesen, so Petersmann. Dagegen gab es von offiziellen Stellen keine Einschränkungen – der Regisseur hatte bewusst erst gar keine Drehgenehmigung angefragt und lobte die digitale Technik, die es ihm mit kleiner Kamera ermöglichte, fast „touristisch“ – unter dem Radar der Behörden – zu arbeiten.
Schwieriger stellte sich die Situation vor Drehbeginn in Deutschland dar: Cantos sollte Petersmanns Abschlussfilm an der dffb sein. Die Filmhochschule wollte sein Projekt jedoch nicht unterstützen, weil es den Verantwortlichen politisch zu heikel war. Einen Verbündeten fand Petersmann in seinem dffb-Dozenten Béla Tarr, der ihn immer wieder ermutigte, nachdem er das Material von Petersmanns erster einmonatiger Recherchereise nach Kuba gesehen hatte. Diese Widerstände funktionierten wie ein Motor und hätten ihn schließlich eher motiviert, erklärt der Regisseur. Und gedreht hat er einen einfachen, unabhängigen Film, in dem er als Autor, Regisseur, Kamera- und Tonmann gleichzeitig agiert.
Die relative Nähe zu den Protagonisten, die aus dieser Arbeitssituation entsteht, sorgte für die Nachfrage, ob die Figuren nicht angefangen hätten, sich vor der Kamera zu produzieren. Petersmanns Lösung war Geduld: Mit der allmählichen Gewöhnung an die Anwesenheit der Kamera verschwanden auch die übertriebenen Selbstinszenierungen im Verhalten seiner Protagonisten.
In der Diskussion mit dem Publikum wurde Petersmann bewusst, wie stark er in seinem Film mit Symbolen arbeitet. So zeigt die erste Szene des Films das Pflanzen eines Baumes, später läuft einer der Protagonisten durch die Straßen, um einen Fisch zu verkaufen. Auch wenn ihm dies beim Drehen nicht bewusst gewesen wäre, sei dieser Fisch doch auch als religiöses Symbol zu deuten, gab Petersmann zu.
Kritisch vom Publikum wurde eine gewisse pathetische Aufladung des kubanischen Alltags bemängelt. Als besonders ambivalent wurden die Aussagen eines der Dissidenten, die Petersmann besucht hat, vom Publikum empfunden: Der alte Mann erinnert sich im Bilde an die Publikation einer seiner Texte in einem spanischen Onlinemedium. Allein der Gedanke daran, im Ausland eine Stimme zu besitzen, bringt ihn zum Weinen. Mit der Hand wehrt er das Objektiv der Kamera ab und tritt aus dem Kader, ein Abtritt, der als überzogen emotional und gestellt gesehen wurde. In der folgenden Einstellung gibt der Dissident sinngemäß zu Protokoll: „Ich wäre lieber tot, als den Zugang zum Internet wieder zu verlieren.“ Charlie Petersmann erzählt im Gespräch, dass er selbst im Schnitt lange darüber nachgedacht habe, ob er die Einstellung in den Film nehmen solle. Aber letztlich stecke in dieser Aussage viel von der Wahrheit der Dissidenten in Kuba. Das Internet spielt eine tragende Rolle bei der Etablierung einer antiautoritären Bewegung, einer Gegenöffentlichkeit. Und schließlich sei Kuba als Insel und als Teil der kommunistischen Welt von der globalen Nachrichten- und Bildzirkulation jahrzehntelang abgeschnitten gewesen. Die zwiespältige Beziehung zwischen Staat und unabhängigen Stimmen wurde am Beispiel der Figur einer Bloggerin im Film und an der eigenen dokumentarischen Arbeit noch einmal vertieft: Auf der einen Seite beargwöhnt die Regierung freie journalistische, filmische Arbeiten; auf der anderen Seite braucht das bankrotte Kuba dringend eine Öffnung der Kultur, um wieder Anschluss an den Westen zu finden.
In ästhetischer Perspektive fragte Christina Nord kritisch im Bezug auf die vielen Naheinstellungen nach, die einen Überblick über die Situation, in der die Protagonisten agieren, allzu oft verweigern. Petersmann erläuterte, die Einstellungsgrößen seien eine Frage des „Geschmacks“, er habe sich für eine raue, lebendige Kamera aus einem Bauchgefühl heraus entschieden. In einem Film wie Cantos allerdings, der sich der Frage nach der individuellen alltäglichen Existenz unter einem bestimmten politischen Regime verschreibt, hätte man dennoch meinen können, dass der Hintergrund, das bestimmende Milieu, in dem sich die Figuren bewegen, ein gleichberechtigter Teil des Bildes sein müsse. Stattdessen entzieht Petersmann die Protagonisten sehr oft ihrer Welt, indem er in Nahaufnahmen den Hintergrund im Unscharfen verschwimmen lässt.