Film

Lost Town
von Jörg Adolph
DE 2009 | 93 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 33
03.11.2009

Diskussion
Podium: Jörg Adolph
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Nina Selig

Synopse

Ideenwettbewerb gewonnen, Machbarkeitsstudie positiv: ein junges Architektenpaar hat die Vision einer Stahlskulptur als Landmark für einen Küstenort in Suffolk entwickelt. Doch dann treffen die beiden Entschlossenen auf das Parish Meeting einer 114-Seelen-Gemeinde und die Untiefen der Politik. 

Protokoll

Zu Beginn der Diskussion reiht Vrääth Öhner Lost Town in, wie er befindet, Adolphs Folge von Filmen über Menschen ein, die Projekte machen (z.B. Kanalschwimmer, df 04). Allerdings, so Öhner, ist hier das Ende sehr ungewiss.

Jörg Adolph ist von seiner Produzentin, die einen Artikel über das Projekt las, auf die beiden Architekten aufmerksam gemacht worden. Adolphs Eindruck eines interessanten, aber schon abgeschlossenen Themas (der Artikel suggerierte, Anne Niemann und Johannes Ingrisch seien durch den Gewinn des Wettbewerbs bereits zu erfolgreichen Stararchitekten geworden), wurde bei einem ersten Treffen mit seinen beiden Protagonisten revidiert. Diese standen nämlich zu diesem Zeitpunkt ganz am Anfang ihres Projekts.

Adolphs Wunsch, nach Kanalschwimmer wieder in England zu drehen, war eine zusätzliche Motivation, ein Jahr lang zu den Terminen der Architekten mit zu fliegen, ohne zu wissen, ob letztendlich ein Film entstehen würde. 120 Drehtage sind es insgesamt geworden, die, so Öhner, vermuten lassen, dass beim Drehen schon an viele verschiedene Gestaltungsmöglichkeiten der „Erzählökonomie“ gedacht wurde. Die Hälfte der Drehtage habe man sich allerdings, so Adolph, im Münchener Büro getroffen und es sei nichts passiert. Die ersten 60 Minuten des Films, die bis Anfang 2006 gedreht wurden, seien außerdem leicht zu erzählen gewesen – zwei Orte, zwei Versuche, den Entwurf für ein landmark zu realisieren. Der Rest des Films erzählt von der Unmöglichkeit Geld zu beschaffen, die zwischendurch so komplex wurde, dass man fast eine Schaugrafik gebraucht hätte. Und dennoch: Man weiß genau, wo die beiden Architekten stehen und wie sie sich fühlen. Adolphs Film zeige, so Öhner, „Facetten von Menschen in Entscheidungssituationen“. Was der Film allerdings nicht aufgreife, ist die Frage nach der Psychologie – was treibt die beiden an? Adolph befindet, dass Lost Town für „seine Art von Film“ schon viel Psychologie beinhaltet, z.B. wenn ein Baby auftaucht oder Annes Besuch bei der Akupunkteurin benutzt wird, um den letzten Akt des Films am laufen zu halten.

Ein Diskutant merkt an, dass sich der Fokus des Films von der Protagonistin zum Protagonisten verschiebt. „Ja, das liegt am Bart“, geht Adolph zunächst auf die visuelle Ebene ein. Er ergänzt, dass Anne die tragende Kraft des Projektes gewesen sei und es für ihn eine wichtige Bewegung des Films gewesen sei, Johannes wieder zurück in die Erzählung zu holen. Er will Johannes Handeln gar nicht stark interpretieren, hat aber bei ihm den Zwang gespürt, realistisch Geld verdienen zu müssen. Dennoch: Das Projekt ist nicht vorbei. Der Film ist für Adolph keine abgeschlossene Geschichte.

Adolph, so Peter Ott, lese mit einer Art „Reflexologie“ die Gesichter der Protagonisten, z.B. wenn Annes Gesichtsausdruck an einigen Stellen einfriert. Adolph erläutert, dass Annes vermeintlich markanter Gesichtsausdruck am Ende des entscheidenden Treffens in Dunwich in der Montage an diese Stelle des Films gelang und erklärt die Interpretation mit Kuleschows Filmpsychologie. Eine Montage, die auch mit „geklauten Momenten“ (Adolph) arbeitet. Z.B. zeigt Adolph nach dem Telefonat, in dem die beiden vom Scheitern einer aussichtsreichen Finanzierungsmöglichkeit erfahren, die Architekten schweigend vor ihrem Büro stehend. Das vorhergegangene, lange Gespräch der beiden hat er bewusst weggelassen.

Eine Diskutantin macht deutlich, dass ein Film letztlich auch ein Projekt sei und fragt, ob es zwischen Regisseur und Protagonisten zu Spannungen kam, da sein Projekt offensichtlich erfolgreich abgeschlossen wurde. Adolph antwortet, dass sie sich oft auf gleicher Höhe begegnet seien. Die Architekten hatten z.B. ein größeres Budget als er, der zunächst anderthalb Jahre ganz ohne Finanzierung drehte. Erst als es in Walton so aussah, als würde sich der Bau der Wahrzeichen realisieren lassen, konnte er Fernsehsender gewinnen. Als die Filmfinanzierung stand, war allerdings klar, dass auch dieser zweite Versuch der Architekten gescheitert ist. Dennoch, als Filmemacher habe er eigene Interessen, so Adolph, wozu auch ein guter Schluss des Films gehöre. Es habe Momente gegeben, in denen er vehementer als die Architekten gesagt hat, das könne es doch nicht gewesen sein. Und sobald das Projekt weitergeht, ist für Adolph auch klar, dass dann weiter gedreht wird.

Dass sich das EEDA (East of England Development Agency) im Entscheidungsverfahren um die Finanzierung so skandalös verhalten habe, sei ein guter und mit den Protagonisten auch abgesprochener Schluss des Films gewesen. Klar war auch, dass eine letzte gemeinsame Fahrt zu Roger, ihrem einzigen Verbündeten in Walton, nötig gewesen sei.

Werner Ruzicka hebt Adolphs Beobachtungen der beiden Architekten, die vor jedem Treffen mit dem Ankleiden in ihre Rollen zu schlüpfen scheinen, positiv hervor. Er zieht Genrevergleiche zur Tragikkomödie und weist auf die zeitlich verknappte Erzählweise des Films hin. Öhner ergänzt, dass man diese auch schon an der Art erkennen könne, wie Dunwich eingeführt wird: Drei Schilder – der Ortsname, die Mahnung zur Rücksichtsnahme auf Ältere im Straßenverkehr und der Hinweis auf den Neighbourhood Watch reichen aus. Adolph nennt Local Hero (Bill Forsyth, GB 1983) als Referenzfilm und erklärt, dass er seinen Wunsch nach einer guten Erzählung vor allen Dingen durch den Schnitt zu erfüllen versucht.

Eine Diskutantin bemerkt, dass der Film für sie eine weitere wichtige Thematik enthalte, das Bauprojekt an sich und die damit verbundenen Fragen: Wem gehört Land? Wem gehört eine Landschaft? Welche Interessensgruppen sind bei einem solchen Bauvorhaben involviert? Adolph hat Verständnis für die Bewohner von Dunwich und berichtet von der „unheimlichen Dramaturgie“ der Bürgerversammlung in Walton. Das Verhältnis von Befürwortern und Gegnern des Projekts habe er im Film der Versammlung entsprechend widergespiegelt. Denn landmarks wie z.B. das London Eye oder der Angel of the North sind in Großbritannien weiterhin ein wichtiges Thema. Auch der Osten Englands möchte wahrgenommen werden, braucht ein Wahrzeichen. Ein Projekt, das immer noch nicht abgeschlossen ist.