Film

Hughesoffka – Briefe aus dem Wilden Feld
von Viola Stephan
DE 2009 | 84 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 33
04.11.2009

Diskussion
Podium: Viola Stephan
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Ann Katrin Thöle

Synopse

Die ukrainische Industriestadt Donezk, deren Kohlevorkommen ihr Schicksal besiegelt. 1869 gründet John Hughes dort die New Russia Company. Die Arbeiterschaft rekrutiert sich aus Einheimischen. Mit historischen Aufnahmen, Fotografien und Briefen wird ein Ort lebendig, dessen Vergangenheit bis ins Heute strahlt.

Protokoll

Vrääth Öhner eröffnet die Diskussion mit einer These: der Spannungsbogen des Films, das Interesse beim Zuschauer und das historische Wissen ergeben sich ihm zufolge aus zwei Säulen, die sich als eine inhaltliche und eine formale beschreiben lassen. Zunächst ist da die Geschichte eines bestimmten Ortes, nämlich die der ukrainischen Stadt Donezk, ehemals Hughesoffka bzw. Juzowka und später Stalino, die Hauptstadt eines der bedeutendsten Kohleabbaugebiete der ehemaligen Sowjetunion (das Donezkbecken, kurz Donbass). Daneben steht die Entscheidung der Regisseurin, die Geschichte dieser Stadt eben nicht anhand von kausalen Verkettungen zu erzählen, sondern mittels einer Art Gleichzeitigkeit von aktuellem Videomaterial, historischen Foto- und Filmaufnahmen und originären Briefen, die von Nachfahren der ehemaligen Ingenieurpioniere vorgelesen werden.

Stephan, die osteuropäische Geschichte studiert und seit 1981 mehrere Russland-Filme gedreht hat, schildert ausführlich, wie die Idee zum Film entstanden ist. Eine ukrainische Firma mit Sitz in München, die ihre vorangegangenen Regiearbeiten kannte, trat mit dem Auftrag, etwas über die Geschichte Donezks zu produzieren, an sie heran. Obwohl Stephan zunächst skeptisch gegenüber den Interessen der Auftraggeber war, die Geldgeber und den Ort nicht kannte und von einer deprimierenden Grundstimmung in der wirtschaftlichen angeschlagenen Stadt ausging, hat sie eine erste Reise in die Region schnell überzeugt. Entgegen ihrer Erwartung herrschte in Donezk, das in der Ukraine einen relativ schlechten Ruf genießt, eine „gute Energie“, eine besondere Stimmung. Die Einwohner strahlten trotz der städtischen Tristesse des Verfalls Tatkraft und Optimismus aus.

Die Idee, den Gründungsvater der Stadt, den Waliser John Hughes, zum Ausgangspunkt der filmischen Erzählung zu machen, stammte ursprünglich ebenfalls von den Auftraggebern, die ihr zur Vorbereitung eine aufwendige Publikation zukommen ließen. Es regte sich der Verdacht, vielleicht für eine neue Mythenbildung in Anspruch genommen zu werden. Denn, so schildert Stephan, die neuen Oligarchen in Donezk besinnen sich heute wieder auf die englischen Traditionen, auf Unternehmergeist, patriarchale Strukturen und einen autokratischen Herrschaftsstil.

Es galt somit, der Gefahr, John Hughes als neue Identifikationsfigur zu überhöhen, filmisch etwas entgegenzusetzen. Angesichts dieser Schwierigkeit stellte sich die Arbeit an diesem Film als ständige Gratwanderung dar. (Stephan verweist auf die Donbass-Sinfonie von Dziga Vertov aus dem Jahr 1930, aus dem einige Szenen in „Hughesoffka“ zu sehen sind: zu diesem Zeitpunkt muss auch Vertov bereits gewusst haben, wohin die Revolution führen würde, und dennoch hat er den Film gemacht.)

Zu einem weiteren Problem wurde die Suche nach geeigneten Archivbildern. Das Staatsarchiv in Kiew stellte sich hier als wenig hilfreich heraus, weil die dort lagernden historischen Aufnahmen „unglaublich verlogen“ (Stephan) sind und von einem hohen Inszenierungsgrad zeugen. Diese Bilder zu integrieren hätte bedeutet, die „Verlogenheit zu perpetuieren“. Erst im Archiv von Cardiff/Wales entdeckte die Regisseurin eine Fülle von reichem, ungefiltertem Archivmaterial.

Öhner fasst noch einmal die Bedeutung der Form zusammen, denn die besondere Erzählstrategie der Gleichzeitigkeit bietet angesichts der schwierigen Quellenlage, des undurchsichtigen Auftragsverhältnisses und der bestehenden Mythen rund um die Stadt eine Möglichkeit, den Raum für eine historische Betrachtung zu öffnen. Ein Zuhörer greift das auf und spricht von einer „mäandernden“ Montage, in der er sich aber aufgehoben gefühlt habe. Stephan betont, sie habe denn auch eher wie ein DJ gearbeitet und eine Art „Remix“ vorgenommen – „man schrammelt so rum“. Überhaupt interessiere sie nicht ein historisierender oder politischer Zugang zum Material, sondern vielmehr das, was ihr „so begegne“.

Ein anderer Diskutant allerdings merkt an, dass ihm dadurch der Schlüssel zu einer übergeordneten Lesart des Films gefehlt habe. Die grundsätzliche Frage, wie Geschichte ideologisiert und umgedeutet werden kann, hätte noch deutlicher herausgearbeitet werden können.

Im Folgenden wird das Thema der Mythen und ihre identitätsstiftende Funktion vertieft: es geht um den Bergbau, die Kirche und den Fußball. Früher war die Bergarbeit in Donezk ähnlich wie im Ruhrgebiet eine privilegierte und angesehene Tätigkeit. Und auch heute noch ist die Identifikation mit dem Bergbau ungeheuer groß. Stephan ergänzt, es gebe nach dem Zusammenbruch der alten Ideologien eine Sehnsucht nach neuen (bzw. traditionellen) Idealismen und emotionalen Einbindungen. Es handele sich um eine Region, die versuche sich ihrer selbst zu vergewissern. Der Fußball und die Kirche „sind schon stellvertretend für die neuen Lebensentwürfe“. Und beide docken letztlich wieder an den großen Mythos des Bergbaus an. Es sei ihr wichtig gewesen, diesen Zusammenhang herzustellen, so Stephan.

Gegen Ende der Diskussion sorgt ein Redebeitrag aus dem Plenum für Irritation bei Stephan. Auf die Frage, ob in einer Sequenz nicht Kommunisten auf Faschisten geschnitten würden und inwiefern das konfrontativ gemeint sei, reagiert sie mit dem Hinweis, das erkläre sich doch von selbst und sei keineswegs anrüchig gemeint.

Vrääth Öhner versöhnt abschließend mit der Feststellung, „Hughesoffka“ sei „ein Film, der mit überraschenden Korrespondenzen arbeitet“.