Extra

Kommst Du mit in den Alltag? Bewegte Bilder und Alltagswirklichkeit

Duisburger Filmwoche 29
02.11.2005

Podium: Robert Bramkamp (Filmemacher), Michael Girke (Filmkritiker), Heide Schlüpmann (Filmwissenschaftlerin)
Protokoll: Roman Fasching

Seit Jahren ist ein Auseinanderdriften des Publikums (auch und erst recht in Duisburg) in zwei „Fraktionen“ mit einander ausschließenden Sichtweisen zu beobachten. Es gibt diejenigen, die „naiv“ von der Authentizität des Dokumentarfilms ausgehen, und die theoretisch Avancierten, die Filmen oft genug jegliches Wirkliche absprechen. Lassen sich diese Positionen versöhnen? Machen Dokumentarfilme Momente alltäglichen Lebens wirklich erfahrbar? Und wenn ja: Wie?

Protokoll

Ruzickas freundliche Einleitung zum Extra verweist auf die im Katalog vorweg abgedruckten Thesen, auf die sich Michael Girke dann im Laufe der Veranstaltung bezieht.

Girke und Heide Schlüpmann haben im Vorfeld der Duisburger Filmwoche zwei Dialoge zwischen ihnen aufgezeichnet. Die bearbeitete und kondensierte Fassung dieser Gespräche wurde nun dem Duisburger Publikum im Extra No. 1, sozusagen als Experiment, vorgelesen. Die Präsentation besteht aus drei Teilen:

1. Dialog: Der theoretische Teil über die Notwendigkeit der Erfahrung im dokumentarischen Bereich

2. Dialog: Filmbeispiele

3. Teil: Podiumsgespräch mit Robert Bramkamp und dem Publikum

Der komplette Dialog wird laut Girke in redaktionell bearbeiteter Form in absehbarer Zeit unter www.filmkritik.blogspot.com veröffentlicht. Das Protokoll fasst demnach die Aufführung der beiden Dialoge nur kurz zusammen. Freundlicherweise wurde nach der Veranstaltung ein Ausdruck des Dialoges zur Verfügung gestellt, sodass weite Passagen in diesem Protokoll Zitate darstellen.

1. Dialog: Theorie

Michael Girke eröffnet das Gespräch mit Heide Schlüpmann standsicher mit einem Zitat von Baudrillard: Sichtbar machen lässt sich mit Bildern allenfalls „die Welt in ihrer ganzen Banalität“. Danach spricht er über Baudrillards Diskussion mit Derrida über den Irak-Krieg, Foucault und die Entsubjektivierung, und schließlich noch etwas Lévi Strauss. Seine weiteren „Geisteshelden“ Deleuze, Luhmann, Agamben werden auch Rande erwähnt. Girkes Punkt: Es gibt bei den Genannten keinen Realismusbegriff, keinen Erfahrungsbegriff, der etwas mit konkreter, alltäglicher Wirklichkeit zu tun hat. Es ist, also ob Wirklichkeit nicht zählt.

Dem entgegnet Schlüpmann, dass die hier produzierte Montage von Zitaten einen Stressmoment produziert. Nämlich den, dass man sich unter diese Helden mischt, und nichts läge ihr ferner. Den Wettstreit der Philosophen, dieses Sich-in-Positur-setzen will sie nicht. Derridas Antwort zeigt, dass ein Reden über Erfahrung nicht überall metaphysisch ablaufen muss, man kann es durchaus auf Erfahrung im Alltag öffnen.

Diese Passage des Dialogs, die später vom einem Diskutanten als „die Heldengeschichte“ bezeichnet wird, findet ihren Weg dennoch weiter, noch einmal über Foucault, Kant, Krieg, Transzendenz, Metaphysik und möglicherweise festgefahrene Denkstrukturen in der Philosophie. Die zentrale Frage für Schlüpmann ist wirklich, ob man mit diesem transzendentalen Denken Alltagserfahrung überhaupt erfassen kann. Für sie gehört zur Erfahrung: Das, was mir begegnet, kann auch mich bestimmen, und nicht nur ich kann es bestimmen. Das Publikum konnte hier nur schweigend zustimmen, noch nicht mitbestimmen.

Was hat man davon, fragt Schlüpmann, die Wirklichkeit zurückzuweisen? Girkes Antwort, die Fortsetzung der Heldengeschichte, führt zu Parmeides und Platon, den griechischen Göttern, der Erkenntnis vom Sein an sich im Angesicht von Zerstörung und Leid, und der daraus folgenden Geburtstunde der Rationalität. Die Wirklichkeit ist Unheilstoff (Tod, Angst, Bedrohung, Körper), wogegen metaphysisches Denken Heilstoff bietet. (Bietet unendliche Überlegenheit gegenüber den Anfechtungen der realen Welt, eine Erlösung) Girke vermutet, diese „Figur des Philosophen“, des wissenden Mannes, steckt noch immer in den heute dominanten Denkweisen.

Auf der Suche nach einem Filmdenken mit ausgeprägtem Realismus- und Erfahrungsbegriff, kündigt Schlüpmann nun den Schwenk zum Dokumentarfilm an, und biegt zu Siegfried Kracauer. Und der weigerte sich ja ständig gegen die Metaphysik.

Bündig erinnern die zwei Gesprächpartner einander an die Hauptlinien von Kracauers Werk: Forderung nach Ausstieg aus der Theorie, weil in der Theorie immer zugespitztere, rein logische, begriffliche Spekulationen dominieren, und so die Verbindung zur Realität gekappt wird. Außerhalb der zugespitzten, theoretischen Spekulationen sieht Kracauer viele gelungene Beispiele, Gegenwart und Vergangenheit realistisch zu erfassen – bei Historikern, bei Autoren wie Proust, vor allem aber in vielen Verfahren des Films.

Schlüpmann betont, ihr geht es immer darum, die realistische Perspektive, die Kracauer tatsächlich aus dem Kino heraus und mit dem Kino entwickelt hat, ernst zu nehmen, und stark zu machen gegen alle eben genannten Geisteshelden. Denn Kracauer ist kein Intellektueller mehr, der frei schwebend etwas entwickelt, sondern die konkrete alltägliche Wirklichkeit und die Wirklichkeit des Kinos lehren ihn etwas.

Wenn wir, so Girke, klären, was „Errettung der äußeren Wirklichkeit“ heißt, sind wir endlich angelangt beim Dokumentarfilm. Kracauers Ausgangsstellung: Das einzigartige am Film ist, dass er die physiksalische Realität zum Gegenstand hat.

Dokumentarisches Kino ist für Kracauer eine Widerstandsmöglichkeit gegen das abstrakte Denken, weil dokumentarisches Kino Wirklichkeit nicht definitorisch erfahren lässt, sondern in ihm der Blick für Menschen, Orte, Dinge in ihrer Konkretheit maßgeblich ist. Man hat in Kracauer einen Denker, der mit dem Kino gegen Metaphysik, das abstrakte Denken, zugunsten der vorhandenen Wirklichkeit argumentiert. Film ist also wirklich ein Gegenbegriff zur Theorie.

Man erkennt dabei eine schwierige Situation: Im Lob für Kracauers Realismus schwingt doch auch oft noch immer der philosophische Vorbehalt mit, der ihn als unzureichend und naiv qualifiziert. Girke: Da scheint mir eine Spaltung im Inneren vieler Leute zu wirken, die ich auch in meinem Alltag beobachte. In privaten Gesprächen ist es ganz selbstverständlich, Arbeitserfahrungen und private, Gedanken und Gefühle auf einer Ebene zusammen zu bringen und mitzuteilen. Man erzählt Geschichte, seine, mit allem was dazugehört. Der Sprache wird als Mitteilungsmöglichkeit von Erfahrung vertraut. In dem Augenblick, in dem ich, meinen Geisteshelden folgend, auf die theoretische Ebene gehe, muss ich diese Erfahrungsebene abspalten. Das Denken sieht meine konkreten Erfahrungen als profane Äußerlichkeiten, und betrachtet die Sprache als etwas, dass mich mehr spricht, als dass ich sie individuell anwende, um etwas mitzuteilen. Eine von Kracauers Qualitäten ist, dass Denken und konkreter Alltag nicht in diese entsetzliche Spannung getrieben werden.

Schlüpmann darauf: Das ist genau das Problem, das wir haben. Und weiter: Filmbilder haben selber eine analytische Kraft, die zur Durchdringung der Realität und ihrer Verhältnisse beiträgt. Wir sollten dokumentarische Filme also als analytische Gebilde ernst nehmen.

2. Dialog: Filmbeispiele. Film als Erfahrung alltäglicher Wirklichkeiten.

1. Models (1998) und Jesus, du weißt (2004) von Ulrich Seidl. Der weiterhin vorgelesene, kondensierte Dialog der zwei Gesprächspartner erinnert dann über Strecken an vorangegangene Diskussionen über Seidls Filme und seine Protagonisten. Was Kracauer dazu sagen würde: Kino kann zeigen, was die Dinge erzählen. Und trotzdem, so Schlüpmann weiter, nicht der Voyeurismus oder der Exhibitionismus der Leute ist das Gemeine, sondern, dass dieses eindimensionale Weltbild den Menschen vor der Kamera übergestülpt wird, und dass Lebensgeschichten nur noch als postmoderner Gag erscheinen.

2. Hans im Glück (2004) von Peter Liechti. Kein Ideenkino wie bei Seidl, lobt Girke. Hier hat jemand während seines Fußmarsches eine Filmform entwickelt, offensichtlich gefundene Bilder verwendet. Schlüpmann widerspricht, weist auf die Konstruktion der Fiktion am Filmanfang hin. Der Plot ist doch nur Vehikel, um die Wirklichkeit aufzunehmen. Kracauer unterstreicht, dass ein entscheidendes Kriterium immer die Haltung des Filmemachers ist. Und er stellt die Zurücknahme des Autors gegenüber dem Gegenstand heraus. Liechti macht das, Seidl nicht. Liechti macht seinen Film mit Menschen. Seidl macht Filme über und, will Schlüpmann ergänzt und betont haben, gegen Menschen. An dieser Stelle scheint Schlüpmann im tatsächlich stattgefundenen und in Duisburg vorgetragenen Dialog weniger als bisher kondensiert. Klare Worte: Sie will in einem Film die Welt sehen und erfahren, und nicht immer wieder nur den Akt der Dekonstruktion serviert haben. Sie will aus einem Film ein Gefühl für Wirklichkeit und Menschen bekommen. Film richtet sich zuerst an die Sinne und an Emotionen, und dann erst an den Intellekt. Liechti erlaubt eine andere Teilnahme als Seidl. Seidl stülpt seine Weltsicht den Menschen vor der Kamera und den Bildern mehr über, als dass er sich für Wirklichkeit interessiert.

3. Hat Wolff von Amerongen Konkursdelikte begangen? (2004) von Gerhard Friedl. Im Dialog entstehen Facetten der Diskussion um Friedls Film. Das Zusammenspiel von Bild und Ton, die Mischung aus Abstraktion und Konstruktion, das clevere ad absurdum Führen der mächtigen Industriebosse und ihrer Macht. Auch die Frage aus welcher Perspektive der Film gedreht wurde, Arbeiter oder Kapitalisten, wird diskutiert. In Bezug auf die modernen „Königshäuser“, die Spitzen der Gesellschaft aus der Industrie, erscheint Girke diese Version der Industriegeschichte Deutschlands fast shakespearisch. Ihr Gegenstand: Das, was uns reguliert und bestimmt, können wir nicht greifen. Und, anders als Seidl, tut Friedl nicht konkreten Menschen etwas an, die tauchen ja gerade nicht auf.

4. Nicht ohne Risiko (2004) von Harun Farocki. Schlüpmann zeigt sich fasziniert von der Authentizität der Bilder, der Zurücknahme des Autors hinter den Gegenstand, dem Zurücktreten des Filmteams beim Drehen. Vor allem, dass sich die Menschen vor der Kamera nicht von ihr irritiert fühlen, erinnert Schlüpmann an Wildenhahn. Es zeigt auch, dass diese Verhandlungen kein Fake, kein Bluff sind. Hier bekommt sie ein Gefühl für Wirklichkeit.

Leider fehlt dem Dialog der beiden Gesprächspartner am Podium an dieser Stelle ein kurzer Blick auf das amerikanische Direct Cinema und das französische Cinéma Vérité, sowie deren seit ihren Anfängen lebhaft ausgeübten Praktiken des Bluffens, Inszenierens, der schlauen Schnitte und Montagen.

Folglich wird Farocki zugestanden, dass sein Film eine offene Haltung hat, dem Zuschauer das Denken nicht abnimmt und ihm somit eine eigene Haltung zum Geschehen ermöglicht. Friedl wird unterstellt, er zeigt in jedem seiner Bilder nur sein Weltbild, und diesem Weltbild kann man nur zustimmen oder es lassen. Mit anderen Worten: Friedl geht in seinem Film von einer fatalen Absurdität des Kapitalismus so wie wir ihn kennen aus. Die Unsichtbarmachung alles Menschlichen in der im Kommentar zu hörenden Sprache, das ist doch genau die „Verdinglichung des Menschen“, seine Reduzierung auf Funktionen von Abstraktionen, vor der manche kritische Theorie das Fürchten lehren will. Farockis Film schafft sich keinen Ausdruck, da beobachten wir nur, meint Schlüpmann

Besonders an diesem Punkt des Extras, vor allem ob der Informationsdichte des verlesenen Dialoges, ist es schade, dass das Publikum im Saal noch immer die Zuhörerrolle einnehmen muss, denn Girke und Schlüpmann haben bis zu dem Zeitpunkt beschwingt ein weites, sicherlich produktives Diskussionsfeld eröffnet.

3. Teil: Bramkamp und die Diskussion

Robert Bramkamp betritt das Podium, und gleich wird ein Ausschnitt aus seinem Film Prüfstand 7 (2001) gezeigt. Hauptsächlich zeigt der Ausschnitt gestellte Szenen mit dem Off-Kommentar einer Frau, die für die Rakete als Erfindung, als technisches Instrument, als eine Waffe steht. Über die Identitätssuche der Rakete/Frau im Film, wird ihre technische sowie die kulturhistorische Geschichte und Bedeutung der Rakete untersucht. Für Schlüpmann ergibt sich nach dem Ausschnitt die Frage an Bramkamp, wie Fiktion einem Dokumentarfilm helfen kann.

Bramkamp stellt voran, dass dieser Zugang, mit der Rakete als Symbol zu arbeiten, für ihn auch ein formales Experiment war. Seine These im Film ist, dass die Faszinationskraft der Rakete alle Sinne berührt, aber natürlich besonders auf visueller Ebene funktioniert. Er versucht, diese verschiedenen Existenzformen in all ihren eigenen Formen sichtbar zu machen und zu verwenden. Die Rakete war ja, bis zum 11. September 2001, auch in der psychologischen Kriegsführung die sozusagen „erfolgreichste“ Waffe. Die fiktive Linie in Prüfstand 7 ermöglicht, die diversen Ebenen der Rakete zu zeigen. Film kann, so Bramkamps These am Ende, zu einer Art zu denken werden, Emotionen und Schwingungen auslösen und somit auch unsere Wahrnehmung beeinflussen.

An dieser Stelle des Extras wird nun das Publikum zum Mitdiskutieren eingeladen. Der Dialog, meint die erste Diskutantin, birgt eine recht frontale Polemik: Entweder wird ein Film als Ideenskizze, oder als Geschichte die vom Leben ausgeht klassifiziert. Besonders in Duisburg findet man aber Filme sowohl struktureller Art, als auch so genannte Lebensgeschichten, und da bieten eben die Diskussionen Möglichkeiten, Zwischenwege zu finden.

Den folgenden Vorwurf, dass der Präsentation eine wirkungstheoretische Diskussion gefehlt hat, will Girke nicht gelten lassen. Da jeder Zuschauer Filme unterschiedlich sieht, und seine Rezeption noch dazu von unübersichtlichen Faktoren beeinflusst wird, ist es aus seiner Sicht unmöglich, über Wirkungsästhetik zu reden. Dieser Aspekt hat ihn somit nicht interessiert.

Gab es denn überhaupt keine Annäherung zwischen Schlüpmann und Girke, will ein Diskutant wissen. Nein, beruhigen beide vom Podium aus, wir haben uns nicht nur selbst gespielt. Wegen der Zeitbegrenzung wurde ausgenutzt, dass diese Art der Präsentation erlaubt, pointierter zu formulieren. Sie widersprechen sich im Dialog ja auch an vielen Punkten. Eine Zweipoligkeit, Ideenkino- Lebensgeschichten, ist in dem Gespräch nicht zu finden. Vielmehr wollten sie eine Konfrontation mit den besprochenen Ideen und Theorien in der Art und Weise des pointierten Widerspruchs präsentieren. Bei den Filmbeispielen sprechen sie über ihre persönliche Wahrnehmung der Filme, und versuchen auch, die Perspektive von Kracauer, besonders die Rücknahme der Konstruktion, an Hand der gezeigten Beispiele noch einmal zu verdeutlichen. Sie wissen, so Girke, dass ihre Beispiele und verlesenen Ansichten extrem angreifbar sind.

Für einen Diskutanten blieb vor allem eines haften: Wenn das Publikum die Sprache des Filmemachers nicht spricht, dann kann dieser auch nichts vermitteln. Man versucht als Zuschauer, die Sprache des Filmemachers in den ersten 15 Minuten eines Films zu verstehen, und danach versteht man es. (Oder nicht.) Dann kann man auch Dinge entdecken, die man vorher nicht gesehen hat oder nicht sehen konnte.

Den Vergleich eines Diskutanten der Präsentation mit einem Film von Seidl, im Sinne der Besprechung seiner Filmbeispiele, wollen Girke und Schlüpmann nicht akzeptieren.

In der gezwungenermaßen kurzen Diskussion wurde vom Publikum neben Lob für das Experiment auch eindeutig darauf hingewiesen, dass die über 2 Stunden dauernde, frontale Präsentation eine hohe Konzentration und Ausdauer beim Zuhören forderte.

Ruzickas versöhnliches Schlusswort über den von Girke und Schlüpmann geöffneten Werkzeugkasten, dass das nun sichtbare Werkzeug wie ein guter Film in den folgenden Diskussionen verwendet werden wird, ist (mir) versehentlich schon in das Protokoll der Diskussion zu Bramkamps Bootgott am Donnerstag gerutscht. Gesagt hat er es schon am Mittwoch. Ruzicka hatte Recht, mit dem begrenzten Arbeitsspeicher.