Film

Katharina Bullin – Und ich dachte ich wär die Größte
von Marcus Welsch
DE 2005 | 75 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 29
02.11.2005

Diskussion
Podium: Marcus Welsch
Moderation: Margarete Fuchs
Protokoll: Natalie Lettenewitsch

Synopse

Silbermedaille bei den olympischen Spielen in Moskau 1980 mit der Volleyballmannschaft der DDR: Für Katharina Bullin war die Welt noch in Ordnung. Zwanzig Jahre und zwölf Operationen später kann sie nicht mehr ohne Spezialmatratze schlafen. Sie ist dazu verurteilt, das Training weiterzuführen, um ihren Körper zu stützen. Ein Leben mit und nach dem Staatsdoping. Und: Wie viel Testosteron verträgt ein Frauenkörper?  

Protokoll

Leistungssport und Doping in der DDR waren schon häufig Medienthema – aktuell gerade wieder durch die Prozessniederlage einer ehemaligen Schwimmerin. Demgegenüber fragt Margarete Fuchs nach der persönlichen Motivation des Regisseurs und ob er überhaupt einen Bezug zu Sport habe. Marcus Welsch hat sich immerhin leichtathletisch betätigt; Katharina Bullin, die ehemalige Star-Volleyballerin, hat er mehr oder weniger zufällig kennen gelernt. Nach ersten Gesprächen ahnte er, dass da „mehr drin“ war – und zwar nicht nur zum „Thema“, sondern zur Person. Eine im Wortsinn stärkere Protagonistin lässt sich tatsächlich kaum vorstellen.

Das publizistische Interesse an ihrer Geschichte hat er zur Genüge mitbekommen; die Doping- Beraterin Birgit Boese hat Katharina Bullin als spektakulären „Fall“ schon für diverse Fünfminüter und kleine Features vorgeschickt. Das Vorgehen der nur oberflächlich interessierten Journalisten, neben denen sich Welsch mit seinem ernsthafteren Ansinnen wie ein „Hobby-Idiot“ vorkam, wollte er ursprünglich in seinen Film aufnehmen; doch da diese Idee vor allem durch „Rachegefühle“ motiviert war, verzichtete er schließlich.

Das Filmprojekt durchlief über einen langen Zeitraum hinweg verschiedene Entwicklungsphasen, zumal es keine Finanzierung gab. Im Lauf dieser Zeit wurde der Film immer mehr zu einem reinen Porträt; den ursprünglich komplexeren Aufbau reduzierte Welsch zunehmend, verzichtete auch auf den Einbezug weiterer Personen (wie z.B. der Doping-Beraterin) und gelangte zu der nun relativ einfachen Struktur, die sich an den Gesprächen mit Bullin entlangtastet. Es war vollkommen ausreichend, „bei ihr zu bleiben“.

Die im Gespräch spürbare produktive Spannung zwischen Bullin und ihm will Welsch nicht als Gefälle zwischen einer Ex-DDR-Hochleistungsathletin und einem staunenden West-Hobbysportler verstanden wissen. Sie entstand zunächst einfach aus der für Bullin neuen Erfahrung, dass ihr ein Unbeteiligter mal länger zuhörte als ein Journalist, der die Geschichte in wenigen Sätzen komprimiert haben will – während Bullin ganz offensichtlich sehr wortreich und sehr energisch darüber sprechen kann.

Im Film kommen verschiedene Gesprächssituationen in Bullins Wohnung vor, die so nicht alle für das Endprodukt vorgesehen waren: Es handelt sich um DV-Aufnahmen von ersten Recherche- Gesprächen, in denen es einfach um die Aufzeichnung und nicht um die visuelle Verwendbarkeit ging. Doch „der erste Take ist meist der beste“ – da spätere Aufnahmen mit dem Kameramann oft nicht mehr die selbe Intensität erreichten, hat Welsch doch auf das Material zurückgegriffen, was der teils schlechten Qualität wegen zu kleinen Verzweiflungskrisen während der Produktion geführt hat.

Eine zweite Ebene, mit der der Film auch seinen Einstieg findet, ist die DDR-Propaganda, die „demontiert“ werden soll. Margarete Fuchs möchte mehr über dieses Archivmaterial wissen bzw. zu welchem Zeitpunkt es in die Konzeption einbezogen war; sie will darauf hinaus, dass Welsch möglicherweise der Faszination dieser teils spektakulären, teils auch belustigenden Bilder zu sehr erlegen sei und sie im Übermaß eingesetzt habe. Konzeptionell war das Material nicht von Anfang an so eingeplant und ist in der Genese den Gesprächen mit Bullin auf jeden Fall nachgeordnet; Welsch recherchierte während der Produktionszeit aus persönlicher Neugierde danach und nahm es hinzu, um „mehr Fallhöhe“ zu erreichen.

Dass die Frage „Ist’s nun ein Mann oder eine Frau?“ permanent über dem Film schwebt, findet eine Diskutantin und fühlt sich irritiert, dass dieses Thema nie direkt angesprochen, sondern wenn überhaupt nur indirekt gestreift wird. In der Tat hat Welsch „keinen Gender-Film“ gemacht. Es gab durchaus einige frühe Gespräche, in denen es um eben diese Fragen ging, um Bullins Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, um ihre Beziehung, um intime körperliche Details – alle diese Passagen hat Welsch jedoch aus dem Film herausgehalten. Er wollte auf die Befriedigung vordergründiger Neugier verzichten und die Geschlechterfrage lieber als Subtext mitlaufen lassen, mit dem der Zuschauer sich selbst auseinandersetzt.

Ein Diskutant möchte wissen, warum Welsch neben der zweifellos starken „Opfergeschichte“ von Katharina Bullin nicht auch mehr Akzent auf die „Täter“ gelegt hat, also die Ärzte, die sie ohne ihr Wissen gedopt und an ihr experimentiert haben. Welsch bekennt, dass ihn das selbst auch interessiert hat, manchmal sogar fast mehr als alles andere; doch dann besann er sich wieder auf die Wahrung ihrer Perspektive. Es gab anfangs durchaus Versuche, an die Ärzte heranzukommen, sie stießen aber auf keinerlei Gesprächsbereitschaft – eine Erfahrung, die auch andere schon gemacht haben. Welsch hält das Thema allerdings für gleichermaßen bizarr wie unaufgearbeitet (die Betreffenden sind heute größtenteils noch immer in der medizinischen Forschung tätig). Man könnte und sollte dem evtl. einen weiteren Film widmen; doch in diesem Fall ging es darum, bei Bullin zu bleiben und nur so weit zu gehen, wie sie selbst wollte (ursprünglich war die Konfrontation mit einer Ärztin geplant, was sie jedoch ablehnte). Darüber hinaus betont Welsch zurecht noch einmal, dass er keinen Betroffenheits- und keinen „Opferfilm“ gemacht hat – Bullin tritt durch ihre persönliche Stärke ohnehin aus dieser Rolle heraus.

Margarete Fuchs hat eine Verständnisfrage: Hat Bullin nun juristisch ausreichende Beweise dafür, dass sie gedopt wurde oder nicht? Im Film sehen wir, wie ein Sporthistoriker ihr entsprechend eindeutige Passagen in den Akten zeigt, sie jedoch kurz danach ihre Frustration darüber äußert, nichts in der Hand zu haben. Welsch räumt die hier etwas verwirrende Montage ein und erläutert noch einmal das Problem, wie es an anderer Stelle zur Sprache kommt: Die Beweise für den Einsatz von Anabolika beziehen sich nur auf die Zeit nach Bullins 18. Lebensjahr – strafrechtlich relevant ist er jedoch nur bei Minderjährigen (denn nur in diesem Fall wird per se davon ausgegangen, dass ohne Wissen und Zustimmung der Betroffenen gehandelt wurde). Die Erkenntnisse bei der Akteneinsicht waren jedoch, wenn auch juristisch nicht verwendbar, ein wichtiger Durchbruch für Bullin, nachdem sie zuvor jahrelang nicht ernst genommen wurde und man ihr einredete, dass sie sich die körperlichen Folgeerscheinungen nur einbilde (!).

Auf das zentrale Thema Körper kommt Brigitte Werneburg zurück und fragt, ob und wann Welsch der Faszination an Bullins Körper, die sie ja auch selbst pflegt, erlegen ist – und ob deshalb ein so starker Fokus auf den Kampfsportszenen liegt. Welsch hat diese Faszination nachvollziehbarerweise nicht erst nach und nach, sondern sofort bei der ersten Begegnung empfunden (ohne deshalb gleich die „ideale Protagonistin“ in ihr zu sehen). Zu den Kampfsportszenen kehrt er aber auch aus einem anderen Grund immer wieder zurück: Sie bergen weniger aggressive als viel mehr philosophische Akzente („mit der Kraft des Gegners arbeiten“) und fungieren als Ruhepole, als Atempausen zwischen den Interview-Szenen, zumal Bullin sonst so viel und so schnell spricht.

In der Fokussierung auf ihre Körperarbeit wird außerdem ein wesentliches Moment deutlich: Sport hat ihren Körper zerstört, doch sie hat ihn sich wieder zurückgeholt und positiv gewendet. Das erscheint allerdings zunehmend paradox, wenn sie sich trotz der starken Schmerzen immer weiter im Krafttraining quält und auf diese Weise der von ihr so verinnerlichte Hochleistungsgedanke wieder durchscheint. Diese Kreisbewegung nachzuvollziehen und bewusst zu machen, ohne Bullin dabei zu denunzieren, ist sicher eine der größten Stärken des Films.

Michael Girke fragt nach der Darstellung von Bullins sichtbarer Alltagsrealität. Sie ist fast während des ganzen Films in ständiger Aktion begriffen, ein „Kraftzentrum“ eben. Gab es keine Möglichkeit zur Distanznahme, zur Beruhigung, zu stilleren Momenten des Beobachtens? Welsch beschreibt, dass er das zwar durchaus angestrebt habe, sie sich aber einfach nicht „beruhigen“ wollte – sie ließ Distanz selbst nicht zu, hat immer nach der Kamera gesucht. Um eine Veränderung dieser Stimmung zu erreichen, fuhr er mit ihr in den Urlaub, was sich allerdings als zu künstlicher Entspannungsversuch erwies.

Gegen Ende kommen ein paar kritische dramaturgische Anmerkungen aus dem Publikum, das nun eifrig eigene Schnittfassungen erstellt: Die Doppelung der „Titelsequenz“ beispielsweise sei unnötig und man hätte nicht derart vorgreifen müssen. In der Tat passt das nicht ganz zu der Souveränität, mit der Welsch im weiteren Verlauf des Films bestimmte Dinge auslässt oder eben nur beiläufig erzählt. Doch auch diese Beiläufigkeit kommt nicht allen entgegen: Eine Diskutantin beklagt wiederum, dass trotz der beabsichtigten Ausblendung von Bullins Privatleben dann doch eine der Urlaubsszenen mit einbezogen wurde, in der Bullins Lebensgefährtin und deren Kind zu sehen sind, ihr Status aber nicht weiter erklärt wird. An dieser Stelle gerate der Film aus dem Takt. Ein weiterer Zuschauer findet es nachteilig, dass nach dieser endlich ruhigeren Urlaubsszene nochmal neu im Erzählfluss angesetzt wird; sie hätte also besser entfallen sollen. Den verschiedenen Vorschlägen, wie der Film noch hätte sein können, begegnet Marcus Welsch geduldig. Margarete Fuchs bringt das zum unschlagbaren Schlusswort: „Es ist wie es ist“.