Extra

Material II – Muster

Duisburger Filmwoche 28
12.11.2004

Podium: Hito Steyerl, Andres Veiel
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Roman Fasching

Vor knappen zwanzig Jahren war es noch Skandal oder doch milde Provokation, als die Duisburger Filmwoche als erstes Festival ihr Programm ausdrücklich Videos öffnete. Inzwischen sind Produktionen und auch Projektionen in Video selbstverständlicher Teil aller Festivals, wenn auch noch zum Teil etwas verschämt in „Sektionen“ versteckt. Das Thema ist also „durch“ – kann man so sagen? In der Tat sind Standards digitalisierter und miniaturisierter Technik so verfügbar geworden, dass – um nur ein Beispiel zu nennen – Fernsehanstalten keine technischen Einwände mehr erheben könnten, ein Amateurvideo zu senden. Und in der Tat ist mit der Popularisierung digitaler Aufnahme- und Bearbeitungsapparate ein solches technisches Wissen akkumuliert, dass – um ein weiteres Beispiel zu nennen – mancher seinen Blockbuster-Film kaum noch ohne sein „making-of“ goutieren mag. Aber es lohnt doch, gerade für das dokumentarische Genre die Fragen neu zu stellen. Ohne Zweifel sind die neuen Apparaturen für Bild und Ton auf eine Art leicht und leistungsstark, dass die – früher oft störenden oder verhindernden – technischen „Gestelle“ wegfallen. Die Apparaturen werden immer „prothetischer“,was neue, selbstverständlichere Beziehungen im filmischen Raum schafft – Möglichkeiten zu einer „besseren“ Intimität oder fragwürdiges Unterlaufen sozial oder kulturell kodifizierter Distanz? Ohne Zweifel befreit auch die nun erschwingliche Materialmenge aus den Zwängen knappster Zeit- und Finanzkalkulation. Aber war nicht das sorgfältige Bedenken, wann man was aufnehmen wollte oder konnte, nicht bereits Teil präsumptiver Dramaturgie? Dass sich nun viele Entscheidungen in die Postproduktion verlagern, macht die Sache nicht wirklich einfacher, denkt man an das Volumen des Materials, das zu sichten, zu ordnen und schließlich zu erzählen ist.

Dieser Befund ist zu bewerten – das soll ein erster Schritt des diesjährigen „Extras“ sein. „Material“ dazu ist genügend mit den Filmen dieses Festivals verfügbar. Wobei Material in einigen der Produktionen „Fremd“- oder Archivmaterial ist – auch hier verschaffen die digitalen Verfahren Zugriffs- und Bearbeitungsmöglichkeiten, die nicht ohne Konsequenz für das dokumentarische Geschichtsbild sind. Das Reden soll durchaus auch etwas perspektivischer werden: So gibt es ermutigende Anzeichen, dass sich eine neue Autonomie und ein neuer Wagemut sowohl in der Produktion wie in der Distribution abzeichnen. Die neuen Trägermedien wie Projektionsapparate könnten tendenziell den Ort „Kino“ disponibel machen und dem Dokumentarfilm neue Publika erschließen. Und schließlich: Wird man sich mit einer Analogie zum Medium Musik anfreunden müssen? Werden digitale Filme ähnlich immateriell im technischen Universum vagabundieren wie derzeit die Töne? Man muss es wohl denken. Material also genug.

Protokoll

Nach Werner Ruzickas einführenden Worten nimmt sich Andres Veiel viel Zeit, um über den Auswahlprozess und dramaturgische Herangehensweisen während des 8-monatigen Schnittprozesses für seinen Film Die Spielwütigen zu erzählen. Er erläutert dies anhand einer im Saal projizierten Szene des Films, die dann am Ende doch nicht verwendet wurde. Er versucht den Widerspruch zu beschreiben, der in der Entscheidung liegt, eine Szene, die eigentlich eine zwingende Schlüsselszene für die Beschreibung einer Protagonistin ist, nicht in den Film aufzunehmen.

Auf die Frage nach der Notwendigkeit der Konstruktion eines dramatischen Bogens in Biographien meint Veiel, wenn sich das Rohmaterial in diesem Film so nicht erzählt hätte, dann hätte man es eben anders organisieren müssen. Bei einer Herangehensweise wie der für Die Spielwütigen ist es normal, dass man vorher nicht genau weiß wohin sich die Geschichte entwickelt. (Anders sei das zum Beispiel bei Black Box BRD gewesen, da war das Meiste vorher recherchiert und geschrieben.) Das sich eher unerwartet ergebende Potenzial für ein klassisches Hollywood-Muster im Material wollte Veiel dann beim Schnitt nicht einfach ignorieren. Der Vorwurf aus dem Publikum, dass der Film keine Alternative zum Blick der Taxonomie der Institutionen (Schauspielschule, Väter…) zulässt, und somit seine Protagonisten verflucht, löst eine kurze Reaktion bei Veiel aus: In Die Spielwütigen geht es um eine dieser Eliteinstitutionen, die täglich einen Beweis der Unterordnung von ihren Schülern fordern. Er will den Blick auf Eliten leiten, und nicht immer auf diejenigen, die durchfallen.

Danach kommt auch Hito Steyerl in der Diskussion zu Wort. Sie verlangt eingangs nach anderen Formen von Zeitbegriffen, nach neuen Umgangsformen mit Zeit. Geschichte kann auch als Trümmerhaufen verstanden werden und nicht nur als aufeinander folgende Zeitpartikel. Sie führt als Beispiel Ici et Ailleurs von Godard und Morin an, in dem die Filmemacher ihre eigenen Inszenierungen und Organisationen von Material beim Betrachten eines ihrer alten Filme dekonstruieren. Durch Archive und Material ist es auch möglich, eine gebrochene und nicht nur eine entwickelte Zeit zu beschreiben. Dem stimmt Veiel zu, weist aber auf die unterschiedlichen Vorraussetzungen zwischen Die Spielwütigen und Steyerls November hin, da ihr Film ein Blick zurück ist, eine Dekonstruktion, aus der neue Zusammenhänge gebaut werden. Er würde somit eher einen Vergleich ihres Films mit seinem Black Box BRD suchen.

Gibt es ein Archiv des Imaginären, sozusagen ein Off-Material, das gegen den fertigen Film kommentiert, will Ruzicka wissen. Zuerst beantwortet Veiel die Frage damit, dass eine Version des Filmes mit einem Off-Kommentar der DVD beigelegt werden wird, beschreibt dann aber auch, dass er versuche, das Rohmaterial in den Sichtungen zu destillieren, und dass eben auch im reduzierten Material die Geister des ganzen Materials mitschwingen. In dem Zusammenhang wird aus dem Publikum auf den Unterschied in der Form der Dekonstruktion von Found Footage und selbst gefilmtem Material hingewiesen. Für Steyerl sind das einfach zwei verschiedene Arten von Rekonstruktion: Eine lineare und eine nicht-lineare. Darauf nimmt sie Veiels Idee mit dem „Geist“ noch einmal auf. Alle Bilder sind Geister, und es ist wichtig, die Geisterhaftigkeit der Bilder aufzuzeigen. November und auch der nicht geisterhaft scheinende Film von Veiel zeigen nichts als Geister.

Im Zusammenhang mit der Frage nach einer ethischen Ebene auf der man dem Material gerecht werden muss, wird aus dem Publikum nach einem Gegenmodel zur erwähnten Verfluchung der Protagonisten gefragt. Welche anderen Arten des Umgangs gäbe es denn? Beide Geschichtsverständnisse sind legitim, so Steyerl. Auf die erzählten Geschichten komme es an. Es bestehe eine – sie verwendet zögernd und nur widerwillig das Wort – „Verpflichtung“ des Filmemachers, seine Rolle des Geschichtenschreibers zu markieren, und auch angreifbar zu machen.

Aus dem Publikum wird kurz resümiert, dass es anscheinend keine neue Geschichtsschreibung durch die digitalen Bilder gibt. Steyerl stellt den Begriff „digitale Bilder“ generell in Frage, die gebe es kaum. In November hat sie bewusst sichtbare Abnutzungserscheinungen und Gebrauchsspuren an den Bildern gezeigt, denn im Moment der Aneignung verändert man das Bild. Es gibt keine für sie bezahlbaren, digitalen Bilder in Archiven. Sie hat für ihre Arbeiten allerdings guten Zugang zu den „Ruinen der analogen Welt“: Altbestände aus Videotheken werden im Internet eingekauft. Andres Veiel spricht in dem Zusammenhang auch die Verfügbarkeit der Bilder an, und verweist auf die Diskussion des Vortages im Extra 1. Aufgrund der schnellen Verfügbarkeit bei digitaler Speicherung ändert sich die Wirkung des Bildes durch den „schnellen Blick“. Somit muss beim Arbeiten mit digitalen Bildern eine künstliche Reflexionsebene eingezogen werden, um sich Zeit für das Bild und seine Wirkung zu geben.

Ruzicka greift den Begriff der Verfügbarkeit auf, und fragt, ob denn Steyerls Filme ohne ihr Wissen zirkulieren und gezeigt werden. Steyerl arbeitet heraus, dass natürlich durch neue Netzwerke von Transport, Distribution und Projektion auch neue Möglichkeiten entstehen, aber dadurch alleine entsteht noch kein Diskurs. Man muss im Endeffekt auch selber anwesend sein, mit den Filmen mitfahren, um dann vor Ort damit zu arbeiten. Filme, die über neue digitale Technologien viel leichter verbreitet bzw. verschickt werden können, sind nur Keimzellen für neue Öffentlichkeiten. Diese Keimzellen müssen aber auch bearbeitet werden. Wie kann man, fragt Steyerl, sich durch die digitalen Archive andere Produktionsformen aneignen? Eine mögliche Alternative zum Produzieren als „Einzelgenie“ wäre das kollektive Arbeiten mit einem Archiv, bzw. am Material. Man sollte das Augenmerk im Kontext des Digitalen auf Formen der Produktion legen und nicht nur auf die Produkte, und versuchen, neue Wege zu denken, wie man sich durch das Archiv durchschlagen kann.

Veiel bringt an diesem Punkt ein, dass das Archivmaterial aber leider immer mehr zur Ware wird, und fragt wie man das denn unterlaufen könne. Öffentliche Archive sind durchaus eine gute Idee, aber in der Realität gibt es ein praktisches Problem. Für Black Box BRD haben alle Archivbilder Geld gekostet, und man ist beim Filmemachen dauernd mit Archivrechten und Persönlichkeitsrechten und Rechnungen dafür konfrontiert. Vieles ist prinzipiell verfügbar, aber die kommerzialisierte Zugänglichkeit zum Material ist ein Problem. Dass dies doch nur eine Frage der Distributionskanäle sei (Publikumsvorschlag: „Unter der Hand“), sieht er nicht so, denn es wird generell und laufend kontrolliert, ob jemand Rechte stiehlt und verwertet.

Dies, so Steyerl, ist der Moment an dem sich die Diskussion (endlich?) vom Material zu den Produktionsverhältnissen bewegt hat. Für ihre Filme stellt die Privatisierung der Archive ein Problem dar. Deswegen verwendet sie ungefragt Material aus anderen Filmen, da sie für ihre Filme einfach nicht einsieht, warum sie jemandem für die von ihr verwendeten Bilder zahlen sollte. Das sei „Mundraub“. Andererseits versteht sie die Situation mit den Archivrechten bei Veiels Film. Ähnlich sieht das ein anwesender Produzent aus dem Publikum, der allgemein zu einer freizügigeren Verwendung von Archivmaterial beim Filmemachen auffordert, und mehr Mut beim Umgang mit Archivrechten wünscht.

Die Diskussion, die ihren Weg schlussendlich doch noch vom Schnittmuster zur Materialproduktion gefunden hat, findet somit knapp am Aufruf zum organisierten Diebstahl ein greifbares Ende.