Film

Der Ausländer
von Thomas Heise
DE 2004 | 37 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 28
12.11.2004

Diskussion
Podium: Thomas Heise
Moderation: Werner Dütsch
Protokoll: Torsten Alisch

Synopse

„Der Hass des Ausländers auf die Gemeinschaft, die ihn ausschließt, ist grenzenlos“. Beobachtung eines Mannes bei seiner Arbeit. Es ist Heiner Müller, der inszeniert und räsoniert. Das Stück ist „Der Lohndrücker“, geschrieben 1956, wiederaufgeführt 1987. Er nennt es eine „Ausgrabung“, dreißig Jahre Geschichte hätten den Text kommentiert. Auch diesen Film kann man ein Stück materialer Archäologie nennen.“Wie aber soll der Horatier genannt werden der Nachwelt?“  

Protokoll

In der Eröffnungsansprache verweist Diskussionsleiter Werner Dütsch auf die merkwürdigen Männerhorden (mit weiblicher Sekretärin), ihre Rauch-Rituale und den ausschweifenden Alkoholgenuss, den dieser Film dokumentiert. Es wäre zu fragen, so Dütsch, welche Rolle diese beim AUFBAU, beim ERTRAGEN sowie beim ENDE des Sozialismus gespielt haben mögen.

Darüber wurde aber nicht weiter gesprochen.

Stattdessen war diesen Männern 1987 schon klar, dass all ihre Erkenntnisse wirkungslos bleiben werden und dass die Wirklichkeit ihnen enteilt ist. Heiner Müller (im folgenden H.M. genannt) hat dementsprechend seit 1987 keine neuen Theaterstücke mehr verfasst und sein Interesse an der politischen Entwicklung Deutschlands ist seither erloschen.

Dies ist eine prägnante Zusammenfassung des 37-minütigen Films. Alles weitere sollte für DDRphile und Filmmaterial-Theoretiker sicherlich von besonderem Interesse sein:

Wir sehen hier Geschichte, die bisher nicht erzählt wurde, die es aber noch zu erzählen gilt!

Wir sehen hier 17 Jahre alte Proben zu einem Stück, dass allgemein unbekannt war und seit seiner Entstehung 1956 nie richtig aufgeführt wurde.

Welche Gefahr mag in diesem Stück gelegen haben?

Das Material, aufgenommen mit einer VHS- Kamera ist in dokumentarischem Schwarz- Weiß gedreht. Die Kamera wurde auf Anweisung von H.M. aus West-Berlin besorgt. Thomas Heise (im folgenden T.H. genannt) hatte bis zu dem Zeitpunkt noch nie eine Kamera in der Hand, durch den Sucher hat er nur wenig gesehen, und das wenige auch nur in Schwarz-Weiß. Die automatische Scharfeinstellung dieser Kamera zwang ihn zu einer bestimmten (eben im Film zu sehenden) Schwenk-Geschwindigkeit. Das Material lag ursprünglich in Farbe vor, aber da er damals durch den Sucher nur die Schwarz-Weiß-Bilder gesehen hat, entsprechen die endgültigen Filmbilder exakt der damaligen Zeit. Die Kamera hatte ein fest eingebautes Mikrofon, andere Original-Töne gab es nicht.

Dieser Film ist eine Archäologie der realen Existenz: Eine Maulwurfstätigkeit quasi, die dazugehörige Fetzen findet und Assoziationsräume öffnet, in denen etwas über die Figur H.M. erzählt werden kann.

T.H. kannte H.M. schon als knapp 14- jähriger, als er von diesem sog. „Onkel“ immer mit Zigaretten und Alkohol beliefert wurde. Über die Arbeit H.M.s wurde zu der Zeit nicht geredet.

Die im Film dokumentierten Umgangsformen auf dem 59-jährigen Geburtstag H.M.s gab es danach nicht mehr in der dargestellten Form. Es war der letzte sog. „private Geburtstag“, alle weiteren wurden öffentlich, erst in einem Theater, dann in der A.d.K. (Akademie der Künste) und schließlich als „Staatsempfang“ gebührend gefeiert. Es wurde später alles „salopper“, jedenfalls nicht mehr so ernsthaft und intensiv.

T.H. plant für die weitere Zukunft ein dokumentarisches Projekt zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, für das er schon Aufnahmen aus Vororten Berlins sowie von bisher unbekannten Zuchthaus-Unruhen (in der unmittelbaren Umgebung Berlins) archiviert hat.

Das Theater in der Demenzphase der DDR war eine Insel der Vertraulichkeit, in völliger Isolation vom „wirklichen Leben“, wo unglaubliche Freiräume geschaffen wurden.

H.M.s frühe Stücke werden in Deutschland allgemein nicht mehr wahrgenommen, es soll aber bestätigte Aufführungen in der Dritten Welt geben (genauer gesagt: Ägypten sowie Brasilien). Dieses spezielle Stück aus dem Jahre 1956 hat H.M. immer als „Aufbau- Stück“ im besten sozialistischen Sinne angesehen, dass ALLE Widersprüche hervorkehrt. Es ist Sache der Zuschauer, wie sich danach die Welt verändert.

Das Material in diesem Film ist sehr zurückgenommen. Auf der Tonebene erzeugt eine sog. „percussion“ eine spiralförmige Bewegung (erst in der Musik, dann im Film, wie in der Diskussion bestätigt wurde).

Die Aufnahmen der TV-„Direktübertragung“ des Gorbatschow-Besuchs (die hier in Duisburg wie auch von den Machern des Leipziger Dokfilm-Wochen-Katalogs 2004 in fataler Unkenntnis der wirklichen Ereignisse nach Ostberlin verortet wurden, aber in Wahrheit die Ankunft des ehemaligen Genossen Gorbatschow in den USA zeigen!), wurden in H.M.s Wohnung aufgenommen. In dieser Wohnung gab es keinen Moment der Ruhe, ununterbrochen fanden unüberwachte Gespräche statt, es waren (wie auch im Film dokumentiert) immer Leute anwesend. Teilweise soll H.M. dann nur noch etwas „abgesondert“ haben, damit die vorbeikommenden Genossen endlich Ruhe geben und sich H.M. wieder seiner eigentlichen Aufgabe widmen könne. Generell fühlte sich H.M. vor der Kamera wohl.

Fragen zu Stasi-Vergangenheit bzw. Stasi- Überwachung von H.M. sind längst (in einem mittlerweile veröffentlichten Buch) offengelegt. T.H. präzisierte noch, wie auf konspirative Weise eventuell existierende Stasi-Mitarbeiter durch falsche Gerüchte oder sog. „Fährtenlegung“ im eigenen Interesse benutzt werden konnten.

Die im Film präsentierten Ausblicke aus H.M.s Wohnungsfenster auf Ostberlin kommentierte ein Zuschauer mit „Dat is ganz schön runtergekommen da“. Eine adäquate Beschreibung der Versorgungslage und des Lebensstandards im Ostberlin der 80er-Jahre.

Es wurde angemerkt, dass die Sichtweise des Films vielleicht zu resignativ ist: 1987 zur Erkenntnis zu gelangen, dass der Aufstand von 1953 vielleicht doch ein Zeichen für die (materielle) Überlegenheit des Westens war, ist sehr dürftig und bringt uns nicht weiter. Kritik in dieser Richtung wurde sich aber verbeten: „Wenn SIE das so finden, gut. Aber wer ist WIR?“

Die Schlussworte aus dem Publikum lobten das „schöne Material“, die filmische Gestaltung und die „Bilder des Wirklichen“: Ein Porträt von H.M. ohne jeglichen Genie- Kult. „Nein“, sagte T.H., „es ist bestenfalls der Versuch, einen Ausländer kennen zu lernen.“