Film

Das Jahr nach Dayton
von Nikolaus Geyrhalter
AT 1997 | 204 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 22
1998

Diskussion
Podium: ?
Moderation: ?
Protokoll: Heimo Schirgi

Protokoll

Im Gegensatz zu anderen Filmen, so Stefan Reinecke, habe sich Das Jahr nach Dayton auf die Nachkriegszeit im ehemaligen Jugoslawien konzentriert. Der Blick sei quer durch alle Gesellschaftsschichten gegangen. Nach Beweggründen für ein so umfassendes und ambitioniertes Werk wird gefragt. Nikolaus Geyrhalter bedauert, daß er darauf keine befriedigende Antwort geben könne. Hauptsächlich sei es die Neugierde gewesen. Auch die Art der Fernsehberichterstattung, die bei ihm eher ein Desinteresse bewirkt habe, sei ein Faktor gewesen. Er sei blauäugig und naiv mit einem Privatauto dorthin gefahren, um mit einer kleinen Kamera erste Bilder zu machen. Daraus habe sich dann eine spezielle Arbeitsmethode entwickelt, die dem dort Erlebten entsprach. Reinecke ortet eine ästhetische Stimmigkeit, eine ”Sicherheit”, die schon am Anfang des Filmes evident sei. Der Einsatz von Weitwinkel schaffe einen gelungenen Rahmen für Bilder des alltäglichen Lebens, der Hintergrund, der Kontext werde mitgeliefert. Geyrhalter schwächt ab: Er habe eben nur ein Weitwinkelobjektiv zur Verfügung gehabt und sehe jetzt schon einige Brüche in der Dramaturgie. Die bloße Beobachtung vom Anfang des Filmes wandle sich später in eine Einmischung in das Geschehen, als sie z. B. beschlossen, den Schafhirten zu seinem Freund nach Mostar zu führen, was, aufgrund der Aufteilung in Sektoren, mit einem Pressefahrzeug wesentlich unproblematischer gewesen sei.

Ein Diskussionsteilnehmer findet, daß solche Sequenzen etwas tief berührendes haben. Die Szene mit dem serbischen Automechaniker, dem die Filmemacher auf seiner Reise in die Ungewißheit eine gute Fahrt wünschen, sei für ihn einer der großen Momente im Film gewesen. Auf die Frage, wie die Kontakte entstanden seien, antwortet Geyrhalter, daß ihm hier das Team, das aus der Region stammt, geholfen habe. Mit einigem Zeitaufwand sei eine Vertrauensbasis geschaffen worden, die für den Film sehr wichtig sei. Auch habe Geyrhalter den Luxus gehabt, nicht jeden Tag drehen zu müssen und dadurch sei man flexibel genug gewesen, die Ereignisse auf sich zukommen zu lassen, bzw., spontan vorgehen zu können.

Stefan Reinecke bringt die Diskussion auf den Aspekt, daß keinerlei ”Täter” zu Wort kämen: Eine dramaturgische Entscheidung? Journalistische Schwierigkeit? Geyrhalter wollte diese ”Ausgeglichenheit”, die sich fast immer als Fiktion herausstelle, gar nicht erst versuchen. Es stelle sich ja auch die Frage, ab wann man sich zum Täter mache. Jutta Doberstein sagt, sie habe die Szene mit dem Richter, der die Kinderleichen vorführt, als Bruch empfunden. Zum ersten Mal habe sich der Film von einem Protagonisten instrumentalisieren lassen. Geyrhalter bemerkt dazu, daß er unbedingt jemanden gebraucht habe, um die schockierenden Bilder der Leichen zu vermitteln. Der Richter habe selbst dreißig Familienmitglieder verloren, das Zählen und Identifizieren der Leichen sei zum schrecklichen Alltag geworden.

Eine Diskussionsteilnehmerin findet, die Stärke des Filmes liege darin, daß viele Momente des ”authentischen Sprechens” entstünden. Sie fragt nach der Interviewtechnik, dem Arbeiten mit Dolmetschern. Am Anfang habe Geyrhalter die Fragen selbst gestellt, später sei ein grober Ablauf festgelegt worden, wobei die Dolmetscher spontan eigene Fragen eingebaut hätten. Die Kameraarbeit und Ruhe des Filmes, der genügend Zeit gebe, eine eigene Meinung zu bilden, wurden einstimmig gelobt. Geyrhalter schwächt ab, daß er beim abermaligen Betrachten des Filmes doch zu lange Einstellungen entdeckt habe. Auch der Ton sei zu gefiltert, was mit der mißlungenen Dolby-Abmischung zu tun habe. Im nächsten Film wolle er deshalb auf Dolby Digital umstellen.

Gerade die Länge der Einstellungen habe wunderschön illustriert, was Wiederaufbau bedeute, so eine Meinung aus dem Publikum. Der Film müsse einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Geyrhalter erzählt von einer möglichen Ausstrahlung im ORF, andere Anstalten hätten kein Interesse bekundet. Eine Woche sei der Film in Wien gelaufen, vor durchschnittlich fünfzehn Zuschauern (”hauptsächlich Freunde von mir”, so Geyrhalter). Es sei zwar primär ein Kinofilm, aber das Kino und Festivalpublikum sehe sich lediglich in den Meinungen bestätigt, nötige Aufklärungsarbeit könne nur durchs Fernsehen erfolgen.

Abermals wird die dezente Zurückhaltung gelobt, die Bilder, die menschliche Nähe vermitteln. Auch der aufmerksame Blick auf die dort lebenden Kinder sei bemerkenswert. Geyrhalter erzählt, wie der Junge, der am Anfang des Filmes gezeigt wird, seine Familie mit dem Waschen von UNO- Fahrzeugen durch den Krieg gebracht habe. Generell sei zu bemerken, daß die meisten Jugendlichen massive psychologische Schäden vom Krieg davongetragen hätten, und es daher fast unmöglich gewesen sei, in den Film zu integrieren.

Nach seinem nächsten Film befragt, erklärt Nikolaus Geyrhalter, er arbeite an einer Dokumentation über Tschernobyl und den Menschen, die dort leben. Bei der Diskussion zeigte sich, daß kontroverse Meinungen nicht alleine über die Qualität entscheiden.

 Nikolaus Geyrhalter, Stefan Reinecke v.l. © Ekko von Schwichow
Nikolaus Geyrhalter, Stefan Reinecke v.l. © Ekko von Schwichow