Protokoll
Wenn die Protagonisten einer Dokumentation in ihrer vollen, physischen Präsenz, neben ihren (Ab-)Bildern erscheinen, springt die Debatte aus den lichten Abstraktionen des Films mitten ins Konkrete des Lebens. Was Eva Hohenberger gestern in ihrem Vortrag ausgeführt hat, erweist sich hier nachhaltig: Dem Dokumentarfilm ist sein primärer Referent (leben, Körper, die einfach – und nicht doppelt – wahr sind) noch nicht abhanden gekommen. (Daher geht es auch in diesem Protokoll um den Film nur am Rande.) Allerdings: das Leben ist hier ein Doppeltes, eins davon präsent, das andere absent. Didi Danquart, selbst ein Zwilling, bietet sich daher als Stellvertreter des abwesenden Bruders Jack an. Oskar Stöhr beschreibt – neben und zwischen vielen Geschichten, die die Geschichten des Films verdoppeln und erweitern – ein Leben mit dem abwesenden Doppelgänger: Einander zu ähnlich, um miteinander zu leben (glaubt er). springt doch der Blick immer wieder ins andere, ferne Ich. in familiären Krisensituationen beispielsweise habe er sich gefragt, „was passiert jetzt gerade da drüben?“ Schließlich sei es so gewesen, daß wichtige Dinge zur gleichen Zeit stattfanden oder im selben Jahr, trotz der langen Trennung, der großen Distanz. (Und ganz gleich, ob sich diese Parallelismen in jedem Fall auch ereignet haben: Das hört sich für den Einling so an, als lebe der Zwilling mit einem dauernden Echo-Effekt zwischen Hier und Da.)
Fasziniert das Publikum der bekennenden Einlinge: „Habt Ihr Zwillinge eine Idee, warum wir über typisch Zwillingsmäßiges lachen?“ Erstaunt über wiederholtes Gelächter äußert sich auch die Regisseurin Frauke Sandig (Einling): Eigentlich hatte sie den Film gar nicht für lustig gehalten, aber schon in San Francisco wurde gelacht, und offenbar handelt es sich dabei nicht um einen spezifisch amerikanischen Effekt. „Spaß an der Verwechslung“, so erklärt sich Danquart das Lachen, eine Zuschauerin spricht dagegen von ihrer Beklemmung – aufgrund des „heiklen Themas“ -, die sich im Lachen gelöst habe. „Heikel“ ist wohl die Koexistenz von „Nazi“ und „Jude“ auf engstem, familien-intimsten Privatraum (als negierte aufgrund umgekehrter politischer Vorzeichen eine Identität die andere?). Oskar Stöhr spricht von den unwiderruflichen Konditionierungen der Erziehung: Noch heute lebe Jack in ungebrochener Identifikation als Brite, über britische Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg sei mit ihm nicht zu diskutieren. (Mir stellt sich dabei die Frage, ob es nicht die Koexistenz der ideologischen Polarisierung. mit jener von der Zwillingsforschung dekuvrierten genetischen Identität ist, die das Thema so „heikel“ macht. Dieselben und nicht-dieselben? Oder: Ist das genetische Material beliebig zu bearbeiten, so daß sich das Wesentliche der Identität nurmehr in den Gummibändern am Handgelenk artikuliert? Und das Lachen: Abwehr der obszönen Anmutung, Identität könne nicht mit dem abgeschlossenen Körper zusammenfallen, sondern mehrere Körper haben oder gar – keinen? Einlings-Probleme, die den Zwillingen aufgebürdet werden.)
Weitere Absenzen: Die ausgeblendeten Gesichter im Film erklärt Produzent Werner Bergmann. Die ältere Schwester der Zwillinge habe den WDR verklagt und ihr ‚Recht am eigenen Bild‘ auch durchsetzen können. So war man gezwungen, ganz kurzfristig zu verfremden und zu kaschieren. Durchs Publikum weht daraufhin ein sonderbarer kleiner Tumult. Mehrfach wird Sandig gefragt, wie sie in Zukunft mit diesem Film, dem plötzlich die Gesichtszüge einer Nebenfigur abhanden gekommen sind, umgehen wird. Dieses verloschene Gesicht verändere den gesamten Film, findet jemand; ein später Effekt der Geschichte einer Verdrängung, wie sie schon die entfernten Kofferanhänger bei der ersten Begegnung der Brüder illustriert haben. Dominiert also in der Sequenz der Verdrängungen doch „die Geschichte, die nicht erzählt wird“? Oskar Stöhr hat nicht vorhergesehen, daß sich die Schwester durch den Film irritiert fühlen könne: so setze sich also die alte Diskussion (die eine Diskussion über die Vermeidung von Irritationen gewesen sein muß) durch den Film und über den Film hinaus fort.
Inszenierungen und Zufälle: Das offene Ende des Films, das Bild der Zwillinge, die ins offene Meer rudern, habe sie sich ausgedacht, erzählt Sandig. Der unterlegte Dialog sei dagegen spontan zustandegekommen und nur zufällig aufgezeichnet worden. Hinter der spielerischen Konkurrenz der Brüder, die damit eine nicht gelebte Kindheit nachholen, verschwinde das Problemfeld Politik-Religion-Geschichte fast vollständig. Didi Danquart fragt nach der Szene bei den Umkleidekabinen die ein „Zwillingsklischee“ bedient, und erfährt dann erleichtert, daß Oskar und Jack jene identischen Trinidad T-Shirts ganz aus eigenem Antrieb angelegt haben.
Wenn sich die Diskussion abschließend erneut den (im Film wie in Duisburg) Abwesenden widmet, stellt sich mir doch wieder die Frage nach dem Referenten des Dokumentarfilms: Warum sonst sind die Diskussionen immer auch Podien für alternative (fantasierte) Filme der Zuschauer? Vorgeschlagen wird beispielsweise ein Film, der auch den Stiefvater zum Protagonisten hätte – schließlich war sein Einfluß auf Leben und Verhältnis der Zwillinge erheblich. Von ihm hat Oskar Stöhr erzählt, daß er als Obergefreiter in einem Ghetto stationiert war und die Zahl der ‚liquidierten‘ Juden für noch zu gering hielt – potentieller Täter, dem in Jack sein potentielles Opfer nur maskiert, der jüdischen Herkunft entledigt gegenübertreten konnte, extrapoliert Roswitha Ziegler ins Unreine. Und wo blieb im Film die Mutter, deren „ungeheure Verdrängungsleistung“ eine Zuschauerin beschreibt? Es ging damals vor allem ums Überleben, antwortet Stöhr. Frauke Sandig fügt dem einen Hinweis auf umfangsbedingte Konzentration hinzu. In 60 Minuten wollte sie vor allem den Zwillingen Raum geben. Noch einmal fällt das Gespräch auf das kaschierte Schwester-Gesicht zurück, das dem Film Verdrängung nun auch visuell einschreibt. Dazu das Schluß-Aperçu von Didi Danquart: „…das ganze Leben nach einem weißen Fleck gesucht, der nun im Film erscheint.“ Leerstelle als Referenz von Leben und Dokumentarfilm? Daß Jack nicht in Duisburg war, hat niemand vermerkt: Er war wohl durch seinen Zwilling hinreichend repräsentiert.