Extra

Die Topographie
von Martin Schaub

Duisburger Filmwoche 20
08.11.1996

Protokoll: Liane Schüller

Protokoll

Der Berg komme nicht zum Propheten, so eröffnet Martin Schaub seinen Vortrag, und genau umgekehrt sei es beim Dokumentarfilm. Jenem, der die Welt kennenlernen wolle, überlasse diese den „aktiven Part“, es handle sich um ein „erfahren-müssen“, auch heute, in einer Zeit der „Bilder-Berge“, die „genau wegen der globalen Verfügbarkeit von Bildern am Ende der Geschichte anzukommen droht“. Das Gewicht der Weit falle weg, mit ihm Behinderungen und Hindernisse. Somit könne „der Prozeß der Weltaneignung, der Er-fahrung, des Ereignisses – Er-äugnisses –“ kaum mehr vermittelt werden, worauf es jedoch immer noch ankomme.

Niklaus Meienberg, einer der Autoren von „Es ist kalt in Brandenburg (Hitler töten)“, der „vor Ort“ ging für seine oral history hatte den „Widerstand des Gegenstandes“ beim Filmen erlebt, ebenso wie Richard Dindo –bei „Es ist kalt in Brandenburg“ dabei– der seine Recherche „Die Erschießung des Landesverräters Ernst S.“ ebenfalls „vor Ort“ verifiziert hatte und in seinem Buch beschreibt:

„Wer filmt, nähert sich der Geschichte anders als wer schreibt. Es geht nicht ohne Augenschein. Man muß die Örtlichkeiten abschreiten, Augen brauchen, Ohren, bevor Kamera und Tonband die Arbeit beginnen. Man kann sich nicht damit begnügen, ein Buch über Plötzensee, wo Maurice Bavaud gefangen war, zu exzerpieren, man sollte die Zelle sehen und ausleuchten (ein Stück Vergangenheit ausleuchten)…“

1955 sei die Strafsache Bavaud wieder aufgenommen worden in einem sogenannten „Wiedergutmachungsprozeß“, und dieser zweite Prozeß sei „vielleicht so wahnwitzig wie der erste“.

Auf dem Papier sei eine Geschichte wie jene von Roll Hochhuth möglich, so Schaub. Hochhuth habe – nach dem Studium einiger vor 1976 publizierter Texte und zahlreicher Akten – „Tell 38“ verfaßt. Eine stilisierte Geschichte, „mit einer Botschaft, mit einer Moral“, nicht vordergründig eine Beschreibung des jungen Schweizers Bavaud, der die Absicht hatte, ein Attentat auf Hitler zu verüben und, nachdem er aufgegriffen worden war, 1941 in Plötzensee enthauptet wurde. Hochhuths Moral beinhalte, daß Hitler Bavaud nicht nur zum Märtyrer, sondern gleichermaßen zum Mythos erhob, „indem er ihn direkt neben Wilhelm Tell stellte und das gleichnamige Schauspiel verbot“•

Die drei Regisseure von „Es ist kalt in Brandenburg“ hatten intensiv für ihren Film recherchiert und Quellen aufgetan, welche „die zünftige und zukünftige Geschichtsschreibung gerne vernachlässigt“. An den von ihnen aufgesuchten Orten interessierten sie nicht nur die Spuren der Vergangenheit, sondern die Veränderungen, die Gegenwart. Die Weit zeigt sich als eine Schichtung, als Berg eben.

Die Filmemacher hätten beabsichtigt, nicht nur die „relevante Schicht herauszupräparieren“, sondern die Topographie der Geschichte wie des Films offenzulegen. Die Idee, den Weg von Maurice Bavauds Leben und Sterben nachzuzeichnen, erwies sich in der Praxis als problematisch. Die verwirrende Faktenlage hatte den Fall immer verwirrender werden lassen. „Einen ‚Tell‘ konnte man aus Bavaud nicht mehr machen“. Die Aufgabenstellung hatte sich verschoben von „Bavaud und Hitler und der Volksgerichtshof und die Hinrichtung, 1938-1941“ zu „Wir drei (1978) und Bavaud und Hitler und München 1938 und 1979 und Moabit und die RAF und das Gefängnis Plötzensee…“.

Es sollte die Konstruktion einer zeitlichen und räumlichen Topographie erfolgen sowie einer „innerlichen Topographie“ der Suchenden.

Auf den Reisen für den Film hätten die Regisseure „Geschichte erlitten“, formuliert Schaub. Daß der Schauspieler Roger Jendly – als „nicht-dokumentarische Figur“ – sowohl Bavaud als auch das „Gewissen“ der Nachforscher verkörpere, sei ein Kunstgriff, der es ermögliche, zugleich von der damaligen Zeit sowie der Gegenwart sowie sich selbst zu sprechen. Er schaffe eine Verbindung von Außen und Innen und tauche durch die topographischen Schichten des Films, was diese erst erkennbar mache.

Auch die Musik von Frank Wolff und dessen Interpretation des „Deutschlandlieds“ dekonstruiere die Gegenwart Deutschlands (oder konstruiere seine Vergangenheit), wodurch ebenfalls die Topographie des Films artikuliert werde.

Die sogenannte „Normalität“ habe die Filmemacher mehr interessiert a_ls die „großen Zusammenhänge“. Methode wie Bild und die Entstehung des Bildes würden im Film deutlich, so Schaub: „das, was man einmal ‚Anverwandlung‘ genannt hat als transparenten Prozeß“. Die Topographie dieses Filmes bestehe in der „Offenheit für Haupt- und Nebensachen, für Kraut und Rüben“ sagt Schaub, indem er Alexander Kluge zitiert; sie setze sich zusammen aus Anschauung und Anhörung, die durch die Montage eine eigene Kohärenz erlange. Die Regisseure hätten sich auf eine „doppelte Reise“ begeben, nämlich ins eigene Innere und Deutschland. Der Film sei geprägt durch eine Methodik der „Improvisation“. Das Material des Films sei vielfältig und widerspenstig, aber „in den Zwischenräumen dessen, was sich nicht leicht verbinden läßt, leben Erschrecken, Ratlosigkeit, Spekulation, Leiden an der Vergangenheit und in der Gegenwart“.

Inzwischen sei der Film selber Geschichte geworden, so Schaub, es läge also an den Zuschauern, nun eine „jüngste Schicht dazu zu erinnern“.