Extra

Die Erinnerung
von Dietrich Leder

Duisburger Filmwoche 20
05.11.1996

Protokoll: Judith Klinger

Protokoll

Angesichts der Aufgabenstellung, Bilanz zu ziehen aus zwanzig Jahren dokumentarischer Bilder, sieht sich Dietrich Leder in doppelter Hinsicht zu unvermeidlicher Hybris aufgefordert: Zum einen ist aus der Menge von 600 Filmen ein einziger auszuwählen, zum anderen wird die eigene, mit Duisburg verflochtene Geschichte nicht auszusparen sein. So tritt im folgenden neben Begriffsreflexion und Überlegungen zum Verhältnis von Dokumentarfilm und Erinnerung auch persönliches Erinnern an Dokumentarfilmgeschichte, wie sie sich dem Duisburger Blick präsentiert hat.

Wie immer beginnt alles mit der griechischen Mythologie: Mnemosyne, Göttin des Gedenkens, ist aufgrund der offenbar außerordentlichen Potenzleistungen des Zeus drei- bis neunfache Mutter der Musen – darunter indes (vor Erfindung einer Differenz von Geschichte und Geschichten) noch keine Muse des Dokumentarfilms. Verräumlicht wird das Gedächtnis Mnemosyne als Quelle gedacht, in unmittelbarer Nachbarschaft zur Lethe, dem Vergessen: erster Hinweis auf einen dialektischen Zusammenhang, der für die historisch unterschiedlichsten Konzeptionen von Erinnerung von Bedeutung sein wird. In der Besorgnis Platons, es könne die Verwendung von Schrift gedächtnisschwächende Konsequenzen haben, findet sich ein Vorklang auf moderne Befürchtungen, Tele-Technologien könnten das Erinnerungsvermögen beeinträchtigen. Die vormodernen Artes Memoriae beschreiben in erster Linie schließlich eine oralen Kulturen verpflichtete Technik, das Gedächtnis zu schulen. Ihre Produktion besteht in der Spezifizierung literarischer Formen – durch Rhythmen, Reime, Metaphern usw. – die mündliche Überlieferung erleichtern: eine Tradition, die sich erst mit der Einführung des Buchdrucks überlebt.

Ein spezifisch modernes Konzept von Erinnerung geht aus den Selbsterforschungstechniken der Psychoanalyse hervor, die Verdrängtes gegen die bewußt-selektive Erinnerung zur Sprache bringen will. Daneben steht unwillkürliches Erinnern – Prousts ‚memoire involontaire‘ – als „Aufstand der niederen Sinne“ gegen die privilegierten Wahrnehmungen des Auges und des Ohrs (Weinrich): spontanes Wiedererleben, das durch Geruch und Geschmack ausgelöst werden kann.

Hier setzt Leders persönliches Gedächtnis an: Griechische Restaurants provozieren genauso wie plötzliches Kälte-Empfinden Erinnerungen an Duisburger Diskussionen, ob beim Griechen oder in einer unterkühlten Wandelhalle, und mit diesen Erinnerungen verbinden sich Stationen, die aus der Gesamtheit der vergangenen zwanzig Jahre abstechen. So z.B. Farockis Weigerung, die Symbolik des eigenen Films auszulegen – im Nachhinein wird damit eine Schwachstelle zahlreicher Duisburger Filmdiskussionen bloßgelegt. Die aktiv-willkürliche Erinnerung vermag dagegen große Linien zu zeichnen: Eine solche besteht im zunehmenden Verschwinden ‚des Politischen‘ aus Dokumentarfilm und Diskussion. Obschon es kaum zu bedauern ist, daß damit Stellvertreterdebatten und Scharmützel zwischen Miniaturparteien ein Ende genommen haben, stellt sich die Frage, warum durchaus noch relevante Themen – der Kampf um Arbeitsplätze, die Radikalisierung moderner Produktionsweisen, linke Geschichtsschreibung – derart verblaßt sind. Als genereller Zugewinn ist dagegen eine „neue Prächtigkeit“ zu verzeichnen: die früher vehement geforderte Reflexion bildlicher Attraktionen hat sich in Form von effektvollen optical values gegenüber Stoff und Gestaltung nahezu verselbständigt. Als Wunsch formuliert Leder, persönliches Erinnern abschließend, ein lob der Fremd-Zusätze: jener Vorträge und musikalischen Zwischenspiele während der Filmwoche nämlich, die auf den ersten Blick nur wenige Berührungspunkte mit dem Dokumentarfilm aufzuweisen scheinen.

Zum grundsätzlichen Verhältnis von Dokumentarfilm und Erinnerung versammelt Dietrich Leder verschiedene Beobachtungen. Da sind zunächst die Verheißungen der Synchronkamera, die erstmals auch das gesprochene Wort als authentisches Material speichern und damit einen Gewinn an Erkenntnis- das Wie des Sprechens- ermöglichen können. Andererseits zeigt sich an dieser technologischen Neuerung die unvermeidliche Kehrseite des Fluchs, die die Gestalt endlosen, live-übertragenen Geplappers im Fernsehen annimmt. Dokumentarfilme handeln nicht nur von Menschen, die über Vergangenes sprechen, sie thematisieren stets auch die Gegenwart des Sprechens. in der Rede des Individuums wird über die Tradition kulturell formierter Erzählformen (z.B. Beichte oder Verhör) Kollektives hörbar: Außer dem Subjekt spricht auch eine bestimmte Form, die – problematisch geworden wie beispielsweise das therapeutische Gespräch oder das institutionell suggerierte Geständnis – der Reflexion bedürfen. Sprechen über die eigene Vergangenheit zielt schließlich immer auf Identitätsstiftung: Im Medium der Erzählung kann sich das Subjekt erst selbst erleben, eine Konstruktionsarbeit, die angesichts der Fragmentierung der Weit zusehends schwierig wird. Tatsächlich ist jeder nicht unwillkürlichen Erinnerung eine derartige Funktion zu eigen, die den Gebrauch des Gedächtnisses im akuten Zusammenhang bestimmt. So kann etwa die Vergangenheit für eine Beglaubigung der Gegenwart in Anspruch genommen werden. Schließlich ist ein weiteres Mol der innere Zusammenhang von Erinnern und Vergessen von Bedeutung: Dokumentarfilme, die mit Tabus, Verdrängungsmechanismen oder Abbrüchen gerade jene Punkte verschleiern, die die Grenzen der Erinnerungsmöglichkeit markieren, üben Betrug am Zuschauer.

In Abgrenzung gegen solche Strategien beschreibt Leder die Gedächtnisleistung von Bernard Mangiantes Film „Lager des Schweigens“. Wie bereits Claude Lanzmans „Shoah“ stellt sich diese Dokumentation einem spezifischen Problem des Umgangs mit der Vergangenheit: Zeitzeugen, die zur Veröffentlichung quälender Erinnerungen bereit sind, haben diese oftmals in verfestigter Form parat, die dem Selbst-Schutz dient. Erinnerung erscheint in der Gestalt eines schon fertigen Textes. Diese verbale Panzerung zu durchbrechen oder darüberhinaus die Erinnerung an noch nie Gesagtes zu wecken kann gelingen, wenn durch Dreharbeiten an Stätten der Geschichte ein unmittelbarer Zugang zum Erlebten eröffnet wird.

Dietrich Leder schließt mit persönlichen Erinnerungen an den November 1989, dem Zeitpunkt der Erstaufführung von „Lager des Schweigens“ in Duisburg, zugleich aber auch historisch gewichtiges Datum: Mit dem Fall der Mauer und einer Reise nach Leipzig verbinden sich nun Erinnerungen an Gespräche und Totengedenken – an den ehemaligen Kultusminister Hans Schwier sowie den WDR-Redakteur Knut Fischer, die beide einen Anteil an nordrheinwestfälischer Dokumentarfilmgeschichte haben.