Film

Abstecher
von Ulrich Weiss
DE 1992 | 65 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 16
1992

Diskussion
Podium: Ulrich Weiss
Moderation: Didi Danquart, Gerd Kroske
Protokoll: Christian Berger

Protokoll

Unterscheidet sich das Publikum auf dem Hamburger Fischmarkt von dem auf dem Wittenberger Markt? Unterschiede gibt es auf jeden Fall bei den ost- und westdeutschen Fraktionen der Duisburger Filmwoche.

Irritationen und Störungen riefen zwei Teile des Films hervor: die Marktschreier-Sequenz auf dem Wittenberger Marktplatz und die Spiegel TV-Sequenz von der Überführung des Alten Fritz nach Potsdam. Didi Danquart warf dieser Sequenz gar Effekthascherei vor, die sich Ober den ganzen Film stülpe. Ulrich Weiß wollte den Grat zwischen Komik und Ernst gehen, zeigen, daß er die Welt anders als Stefan Aust sehe. Mit Ironie wolle er die Dialektik des Gefühls ansprechen. Gesprächsbeiträge von Thomas Heise und Constantin Wulf zeigten die unterschiedlichen „Empfindsamkeiten“ in Ost und West:

Das neue Publikum auf dem Marktplatz in Wittenberg. so Heise, mache das Spiel mit – vor 1989 hätte sich niemand Käse in den Mund stopfen lassen. Ohne vorgefertigte Meinung versuche der Film etwas herauszubekonmmen, indem er sich auf die Sprachlosigkeit der Reisenden einlasse. Hier wurden zwei verschiedenen Geschwindigkeiten aufeinander stoßen (lange Einstellungen im Osten / schnelle Schnitte im Westen). Ein Märchen! widersprach Constantin Wulf, auch im Österreichischen und im schweizerischen Film gebe es lange Einstellungen. Durch die ungenauen Fragen fange der Film die ostdeutsche „Katerstimmung“ ein. Die Bilder fungierten als Beweise für die These „arme Ossis werden von bösen Wessis überrollt“. Konkretes wie die Marktszene werde metamorphisiert. Dietrich Leder ergänzte, es sei ein Irrtum zu denken, Marktschreier seien die Speerspitze des Kapitalismus – diese seien mehr dem Alten Fritz verpflichtet.

Zeit-Begriffe
Der Rhythmus des langsamen Vorortszuges sei der Rhythmus der DDR, er kontrastiere mit dem Verhältnis von Geld und Zeit in der BRD. Thomas Heise pflichtete dieser Einschätzung des Regisseurs bei. Die Unterschiede im Zeitgefühl manifestierten sich durch Sprachlosigkeit auf der einen und flotte Sprache auf der anderem Seite. Lothar Schuster wollte den Zeitbegriff differenzierter verstanden wissen Zeit als Wertbegriff (viel Zeit/wenig Geld – viel Geld/wenig Zeit} sei auch in der DDR widersprüchlich gewesen, der Film drücke in Szenen wie der „Expresszustellung“ die verlorene Zeit aus, ,die die DDR kaputtgemacht habe.

Die „Farbe“ des Lamentierens
Weiß stellte den Hang der Deutschen zum Klagen fest, weil sie sich zukurzgekommen fühlten; dies sei die Basis für die Sentimentalität und Brutalität im Lande. Im Osten habe das Lamentieren noch eine eigene „Farbe“. Er habe diese Unschärfe des Gefühls beschreiben wollen; bei den Reisenden im Zug habe er eine große Bereitschaft gespürt, „es“ loszuwerden. Dietrich Leder fühlte sich an den Negt’schen Begriff der „topischen“ Rede erinnert und erkannte in dieser erworbenen Sprachlosigkeit eine deutsche Tradition.