Film

Obdachlos
von Marianne Pletscher
CH 1991 | 60 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 15
13.11.1991

Diskussion
Podium: Marianne Pletscher, Marianne Jäggi (Schnitt)
Moderation: Gerd Kroske
Protokoll: Reinhard Lüke

Protokoll

Zur Entstehungsgeschichte ihres Films erklärte Marianne Pletscher, daß sie sich bereits seit längerem mit dem Thema beschäftigt habe. Die 700-Jahr-Feier sei ihr ein willkommener Anlaß für den Film gewesen. um einerseits einen Kontrast zum offiziellen Festprogram zu setzen, andererseits inmitten dieser „Heimatseligkeit“ mit ihrem Film auch eine andere Dimension dieses Begriffs deutlich zu machen. Werner Ruzicka war nicht ganz nachvollziehbar, warum dieser Film in der Schweiz eine derartig große Resonanz gehabt habe. Hierzulande werde dieses Thema doch „ständig“ zum Gegenstand von Fernsehreportagen gemacht. Marianne Pletscher: über das Problem habe es auch im Schweizer Fernsehen durchaus Berichte gegeben, die allerdings meist nur sehr kurz gewesen seien. Ihr sei es gerade darum gegangen, Betroffene in ihrer „Ganzheit“ als Menschen vorzustellen. Werner Ruzickas Vermutung, der Film mache in seiner „geschmeidigen Ästhetik“ Konzessionen, an die „normalen“ Fernsehzuschauer bestätigte die Regisseurin nicht. Einen „schmutzigen“ (?) Film zu machen, habe sie nie vorgehabt. Was die von einigen Zuschauern kritisierte Verwendung des Kommentars angeht, räumte sie jedoch ein, damit heute auch nicht mehr ganz glücklich zu sein. Wahrscheinlich sei es besser, mehr oder sogar ausschließlich mit O-Tönen zu arbeiten. Auch die Wahl der Sprecherin mit ihrem glatten Bühnendeutsch sei sicherlich nicht optimal gewesen. Gerd Kroske war nicht einsichtig, warum der Film einerseits eine große Nähe zu seinen Figuren aufbaue, sich andererseits aber wieder von ihnen distanziere, indem er sie vielfach nur aus dem Off zu Wort kommen lasse. Marianne Pletscher: in erster Linie habe das mit: den Artikulationsproblemen der Betroffenen zu tun, die alle Drogen- oder alkoholsüchtig seien. Darüberhinaus habe sie sie aber auch mehr in lebendigen Situationen zeigen wollen, als sie vor der Kamera reden zu lassen.

Doch gerade diese „Lebendigkeit“ der Personen wurde von einem Diskussionsteilnehmer vermißt. Den Film reduziere sie auf den Kontext ihrer Obdachlosigkeit und lasse soziale Beziehungen völlig außer acht. Dazu, so Marianne Pletscher, hätte sie sich auf eine einzelne Person oder einen Ort beschränken müssen, was ein völlig anderer Film geworden wäre. Hier sei es ihr jedoch wichtig gewesen, das Moment der Zirkulation, das das Leben dieser Menschen bestimme, in ihren Film hineinzunehmen. Karl saurer wollte wissen, wie die Regisseurin mit dem Problem der Verantwortung für die Betroffenen umgegangen sei, das bei derartigen Projekten doch immer bestehe. Schließlich könne ein solcher Film auch negative Konsequenzen für die Beteiligten haben.

Eine grundsätzliche Lösung für diese Schwierigkeit hatte Marianne Pletscher auch nicht anzubieten. Sie habe diese Gefahr jedoch so klein wie möglich zu halten versucht. Im Film sei niemand zu sehen, der nicht vorher sein ausdrückliches Einverständnis gegeben habe. Zu den vier Hauptpersonen halte sie auch wetterhin Kontakt. Kritik äußerte ein Zuschauer an den Aussagen der Obdachlosen, die sich häufig in Klischees. ergingen und damit der Komplexität ihres Problems nicht gerecht würden. Den Einwand der Regisseurin, sie habe diese Aussagen bewußt als „Lebenslügen“ deutlich machen wollen, mochte er nicht gelten lassen. Dazu fehlenden Bildern die Distanz, im Gegenteil, vielfach unterstützen sie diese Klischees noch.

Elke Müller monierte, daß der Kontext der 700-Jahr-Feier im Verlaufe des Films nicht mehr aufgegriffen werde. Dadurch wirke die Eingangssequenz etwas „aufgesetzt provokant“. Marianne Pletscher: ihr sei das als „Klammer“ für den Film völlig ausreichend gewesen. Aber womöglich sei diese Szene auch nur schweizer Zuschauern zugänglich, da hier einfach eine Reihe von eidgenössischen Potentaten ein groteskes Plädoyer für die „Andersdenkenden“ hielten. Fosco Dubini nahm die Szene zum Anlaß für die Frage, ob man es sich nicht zu einfach mache, immer wieder nur jene „Betonköpfe“ an den Pranger zu stellen. Man müsse sich doch fragen, inwieweit nicht auch die Subkultur-Ideologie der 70er Jahre in der Schweiz eine Lebensphilosophie propagiert habe, deren Opfer jene Obdachlosen und die fixer Oberhaupt jetzt seien. Eine Überlegung, der Dietrich Leder (unter Hinzuziehung diverser Parolen aus der Flower-Power Zeit) weitgehend beipflichtete. Da sei eine kritische Selbstreflexion der linken Szene gefordert und es sei sicherlich ein interessanter Versuch, einzelne Biographien, beispielsweise jener im Film vorkommenden Personen, einmal mit filmischen Mitteln „aufzudröseln“. Eine Idee, für die sich auch Marianne Pletscher grundsätzlich zu erwähnen vermochte, obwohl sie an der Stringenz derartiger Kontinuitäten so ihre Zweifel hatte.