Extra

Litauen

Duisburger Filmwoche 13
20.11.1989

Podium: Zivilé Pilipaviciené (Buch für "Die Ziegelsteinflagge"), Saulius Berzinis (Regie, Buch), Algomantes Mikuténas (Kamera "Noahs Arche"), Henrikas Sablevicius (Regie "Das alles hier gehört mir nicht"), Danielus Mickeviciús (Direktor des litauischen Filminstituts)
Moderation: Hans-Joachim Schlegel
Protokoll: Judith Klinger

Protokoll

Hans-Joachim Schlegel eröffnete das Gespräch mit der These, wesentlicher Träger einer „neuen Bedeutung des Kinos in der UdSSR“ sei der Dokumentarfilm. Gegenüber seiner ihm früher verordneten Funktion, „pathetische Sichtblende gegen die Wirklichkeit“ zu sein, griffe er nun in eben diese Wirklichkeit über, wie die heftigen Debatten um den eben gesehenen Film ‚Die Ziegelsteinflagge‘ zeigten. Zum ersten Mal sei in der Sowjetunion die theoretische Diskussion in praktische Forderungen umgeschlagen, Unterschriftensammlungen schlossen sich an die Vorführung der ‚Ziegelsteinflagge‘ an.

Im Zusammenhang der gesellschaftlichen Funktion des Dokumentarfilms, fügte Danielus Mickevicius, Direktor des litauischen Filminstituts hinzu, sei gerade dieser Film als ein Wendepunkt zu nennen.

Sie habe in der ‚Ziegelsteinflagge‘ ein bisher totgeschwiegenes Thema aufgegriffen, so die Drehbuchautorin Zivile Pilipaviciene, deren erster Anhalts punkt die „moralische Vernichtung“ zweier Neffen durch den Wehrdienst in der Roten Armee war.

Saulius Berzinis, Co-Autor und Regisseur, betonte den Anspruch dieses Films auf Wahrheit und absolute Vollständigkeit, auf das Abschütte in jener Kompromißbereitschaft, zu der man – im Sinne einer Selbstzensur – sich früher gezwungen sah. Die politischen Verhältnisse haben sich seit dem Abschluß der Dreharbeiten radikal verändert, versuchte Einflußnahmen seitens der ‚glorreichen‘ Armee sind erfolglos geblieben; plötzlich, so Berzinis, habe es nicht einmal mehr Funktionäre mit Entscheidungsgewalt gegeben.

Dennoch verschafft sich die jahrzehntelang betriebene Informationspolitik im Film selbst Raum. “Geiseln der Armee“ seien die Angehörigen der ermordeten Soldaten, erklärte Berzinis. Um sich gegen öffentliche Angriffe zu schützen, halte das Militär die Trauernden in Ungewißheit über Umstände und Hintergründe der Morde, füttere sie nur mit gezielten Gerüchten. Man hoffe offenbar auf einen Mitleidseffekt, in dessen Folge die Öffentlichkeit vielleicht von politischen Forderungen Abstand zu nehmen bereit sei. (Während der Dreharbeiten kannten die Angehörigen zwar die Wahrheit der Tat aus den Medien, glaubten aber dennoch der von der Armee ausgestreuten Interpretation, es handle sich um einen Fall von nationalistischem Terrorismus.)

Im Anschluß wurde eine Frage aufgeworfen, um die der Film in regelmäßigem Rhythmus kreist: Was bedeutet das Aufeinandertreffen europäischer und islamischer (Erziehungs)Kultur im Verlauf des Wehrdienstes für die Struktur des Militärs? 

Dorfkinder, aus der Überwachung durch den Vater oder den älteren Bruder entlassen, seien natürlich für die Mechanismen einer solchen Hierarchie anfällig, erklärte Berzinis. Er beobachte darüberhinaus einen „geistigen Niedergang“ in den asiatischen Sowjetrepubliken. wo die Ausbildungschancen für Jugendliche sich einem Nullpunkt näherten. Allerdings komme im Film die Gruppe der Moslems sicher zu kurz, der aufbrechende Konflikt sei weniger als ein religiöser denn als Unvereinbarkeit verschiedener nationalistischer Tendenzen innerhalb einer Armee der ‚Brüder‘ geschildert worden.

Kritisch bezog sich Zivile Pilipaviciene noch einmal auf die wiederholte Bemerkung Hans-Joachim Schlegels. die Funktion dieses Films sei es, „verändernder Faktor in einer sich verändernden Wirklichkeit“ zu sein: Die Armee habe als Reaktion auf ‚Die Ziegelsteinflagge keinerlei Zugeständnisse gemacht – weder praktischer noch verbaler Natur (der Film zeige einen ‚untypischen Einzelfall‘ hieß es von offizieller Seite).

Der zweite Block der Diskussion dessen Gegenstand Rimtautas Silinis‘ Film ‚Noahs Arche‘ bildete, fand seinen Schwerpunkt in der Frage nach dem Experimentieren mit neuen Formen. 

Eine neue Bildersprache werde hier gesucht, leitete Schlegel die Vorführung ein, und erkundigte sich im Anschluß daran, ob es in ’Noahs Arche‘ nicht um die Überwindung traditionell realistischer Darstellungsmuster innerhalb des Dokumentarfilms gehe und ob man in Litauen überhaupt den Experimentalfilm kenne.

Den kenne man durchaus antwortete Henrikas Sablevicius; allerdings sei der Aufschwung eines Interesses an frei montierten Bildern vor etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren allein dem Umstand zu verdanken gewesen, daß offene Kritik unmöglich war. Damals habe man zu einer Sprache des indirekten Verweisens Zuflucht genommen, einer Grammatik symbolischer Bilder.

Kameramann Algomantes Mikutenas (der Regisseur von ‚Noahs Arche‘ war nicht zugegen) ergänzte diese Perspektive durch seine Schilderung der darauffolgenden Entwicklung: Mehr und mehr habe sich der Dokumentarfilm von Photographie und Form weg dem reinen Inhalt zugewandt.

‚Noahs Arche‘ sei ein Versuch in die andere Richtung, ein Zurückholen der Bilder, um sie in ihre ursprüngliche Funktion wiedereinzusetzen: als kollektives Gedächtnis und als Stimulanz für das Gedächtnis des Einzelnen gleichermaßen. Bilder sollen freigesetzt werden, man könnte auch sagen: es geht darum, ‚Bilder zu denken‘.