Film

Ein Film für Bossak und Leacock
von Klaus Wildenhahn
DE 1984 | 117 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 8
09.11.1984

Diskussion
Podium: Klaus Wildenhahn, Wolfgang Jost
Moderation: Elfriede Schmitt, Brigitte Krause
Protokoll: Jochen Baier

Protokoll

Zwei Stichworte lieferte Elfriede Schmitt der Diskussion als Vorgabe: Der Film sei nach den Filmen und Diskussionen vom vorherigen Tage, die um die Suche nach Vätern und die Suche nach Bildern kreisten, als eine Marke postiert, thematisiere er doch beides in einer Reflexion über das dokumentarische Arbeiten.

Die Debatte geriet, was bei Thema und Machart des Films wie bei der Zusammensetzung des Auditoriums nicht anders zu erwarten, sehr schnell zu einer streckenweise heftig ausgetragenen Kontroverse über die gegenwärtigen Positionsbestimmungen von Dokumentaristen, deren Arbeitsweise insgesamt auf Leacock sich zurückführen ließe. Verständlicherweise stand bei dieser Interessenslage des Auditoriums zu Beginn die Frage – an Klaus Wildenhahn gerichtet, der nur unwillig hierauf Antwort gab – nach Leacocks, des Mentors früherer Jahre momentanen Lebensumständen. Leacocks gesprächsweise fallengelassene Bemerkung, über die Zukunft des Dokumentarfilms solle man vielleicht besser nicht mehr diskutieren wollen, wurde als Indiz einer Resignation gewertet, das die Frage aufwerfe, ob er denn noch drehe, arbeite oder ob er sich als isolierter Künstler oder Lehrer nun durchschlagen müsse.

Wildenhahn berichtete, Leacock könne nur von Zeit zu Zeit einmal einen finanzierten Film machen. Ansonsten drehe er kleine Filme billigster technischer Ausstattung auf S8 und Video, die Beobachtungen darstellten, deren Entstehung keinem Zwecke sich verdankten. Er, Wildenhahn, ahne bei Leacock auch eine Haltung, die dahin gehe, seine Studenten nicht eigentlich zu Filmemachern auszubilden – Filme seien etwas, das nebenbei entstehe. Leben könne man davon ohnehin nicht angesichts eines standardisierten 7 1/2 Personen-Publikums, das Dokumentarfilm zu sehen wünsche. So ergebe sich die absurde Situation, daß Leacock heute weltweit bekannt sei, seine Filme hingegen versteckt in Archiven lägen.

Besonderes Anliegen vieler Diskussionsteilnehmer war es, die im Film Leacock wie Bossak umgebende Stimmung aus Pessimismus und Trauer zu thematisieren. Reni Mertens empfand Leacock als müde – im Unterschied zu Bossak, der nicht aufzugeben scheine.

Walter Marti erinnerte an den Leacock der sechziger Jahre, der als ein „wunderbarer Gary Cooper“ mit seinem Glauben an die Technik herumgereist sei und der staunenden Öffentlichkeit der Filmschaffenden und -kritiker den Eindruck vermittelt habe, jetzt endlich breche die Wahrheit ein in den Film. Insofern sei Leacock mitverantwortlich für alle damals und später genährten Illusionen. Sehe Bossak sich selbst historisierend, so wisse Leacock immer noch nicht, wo er stehe. Er kreiere heute so etwas wie eine Insel der freien Kunst. Bossak sei ihm, Marti, der jenem bisher nur auf der offiziellen Delegationsebene begegnet sei, durch diesen Film eigentlich liebgeworden.

Brigitte Krause, die berichtete, nach dem Film große Trauer empfunden zu haben angesichts der Tatsache, daß selbst diese beiden, Bossak wie Leacock, eine pessimistische Lageeinschätzung hätten, fragte Wildenhahn nunmehr nach seiner eigenen, produktionshinsichtlichen Position: Er habe von beiden gelernt – das habe er schon im Film gesagt; er aber könne doch – im Unterschied zu Leacock etwa – weiterhin von seiner Arbeit als Filmemacher in einer Sendeanstalt leben. Die Kenntlichmachung dieser Situation und ihrer Implikationen fehle in dem Film, wie auch andere Diskutanten bemängelten, die sich darüberhinaus gewünscht hätten, mehr über die sehr unterschiedlichen Produktionsbedingungen in den Produktionssystemen USA, Polen, BRD zu erfahren.

Diese Problematik in den Film aufzunehmen, sei ihm, wie Wildenhahn zurückgab, als zu schwierig erschienen angesichts der komplex prekären Lage der öffentlich-rechtlichen Anstalten. Er halte jedoch seine eigene Position und deren Bedingungen für den Film nichts Äußerliches – sie seien problemlos ablesbar.

Gegen die Beiträge, die den Pessimismus der beiden Protagonisten als eine problematische Stimmung hervorhoben, wandte Wildenhahn ein, Pessimismus, wie er hier sich zeige, könne als etwas Kräftiges verstanden werden; man könne trotz pessimistischer Haltung aktiv bleiben, wie Bossak als eingefleischter Pessimist beweise. Man müsse generell lernen, mit dem Pessimismus als einem Faktum umzugehen und man solle auch aussprechen dürfen, daß es nicht leicht sei, weiterzumachen. Pessimismus mache jedoch keinesfalls inaktiv.

Reni Mertens warf ein, es sei die Situation, die inaktiv mache – eine Bemerkung, der Wildenhahn entgegenhielt, daß keiner der ihm bekannten Pessimisten tatenlos sei. Als das Fernsehen begann, so bekräftigte Reni Mertens ihre Beurteilung der Situation, habe man gedacht, dieses sei der Ort, wo Experimente möglich seien, ein Ort für Kritik und Schärfe, für die Entwicklung kleiner Formen. Inzwischen aber seien die Strukturen so übermächtig, daß sie zur Inaktivität fast zwängen. Die Löcher, durch die man etwas einbringen könne, seien immer enger geworden.

Gabriele Voss sah in dem beschriebenen Pessimismus eine Stärke. Leacock und Bossak hätten nicht den Eindruck vermittelt, sie hätten aufgegeben. Sie entwickle deutlich Sympathie für diese Haltung: gleichgültig nämlich, wie eng die Löcher seien, man dürfe und solle nicht aufgeben. In diesem Zusammenhang wies sie darauf hin, daß in der ästhetischen Machart des Films ein Protest angelegt sei. Sie habe die Rauheit des Films als angenehm empfunden angesichts der Stromlinienförmigkeit anderer, in Duisburg gesehener Filme. Man dürfe nicht selbst sich schwach machen gegenüber allen Anforderungen an den Dokumentarfilm, die Glätte, Eingängigkeit und Perfektion wollten.

David Wittenberg entwickelte einen im Film angelegten Gedanken weiter, der nach der Verbindung des gegenwärtig lebenden Individuums zur Geschichte fragt; eine Verbindung, die nur durch Rückbesinnung auf die einfachsten Mittel potentiell verfügbar werde. Leacocks bis zur Schmerzgrenze geschichtshaltiges Einzelleben und Bossaks Benjaminscher Engel der Geschichte, ausgedrückt in seiner Bemerkung über den „Ton des Windes“, welcher der „Sturm“ sei, der „vom Paradiese her“ wehe (Benjamin, Geschichtsphilosophische Thesen, Anm. d. Prot.), werden in dieser ganz bestimmten geschichtlichen Situation (auch dokumentarfilmgeschichtlichen Situation) bewußt. Trauer sei in dieser Weise eine ganz bestimmte Arbeit an der Geschichte, die man nicht nur zum Filmemachen benötige, sondern auch zum Leben. ·

Mit Werner Ruzickas scharfem Veto gegen Art und Inhalt der Diskussion fand ein Unwohlsein seinen Ausdruck, das die Debatte schon längere Zeit begleitete: Zugespitzt führte Ruzicka ein handliches Periodisierungsschema der Diskussionen über Dokumentarfilm ein; vor 3 Jahren, als H.H. Prinzlers Film über „Montage im Dokumentarfilm“ heftige Kontroversen in Duisburg auslöste, habe der Dokumentarfilm seine scholastische Phase erlebt. Heute sehe man zwei gescheiterte Dokumentaristen, die ihr Scheitern in Rhetorik aufheben in einem Film, der sich selbst in Rhetorik auflöse. Die Diskussionshaltungen seien beängstigend, denen es leichter falle, rückwärtsgewandte Trauerarbeit zu beschwören statt mit Gegenwart sich zu sättigen.

Dem widersprach heftig und selbst unwidersprochen Gabriele Voss. Von Scheitern sei dort nicht zu sprechen, wo einer bei sich selbst geblieben sei. So habe van Gogh sein Leben lang kein Bild verkauft, er habe seine Arbeit dennoch nicht verändert, er sei konsequent bei sich geblieben, habe seine pekuniäre Erfolglosigkeit lieber in Kauf genommen. Daß diese Äußerung, wenn eine Einmischung des den gesamten Diskussionsverlauf repetierenden Protokollanten hier einmal erlaubt ist, mit Ausnahme einigen zurtickhaltenden Gemurmels in dieser Form und diesem Inhalt unwidersprochen blieb, könnte als Meilenstein in die Geschichte des Dokumentarfilms eingehen, und dies beträfe nicht nur den erstaunlichen Wandel in der jeweiligen Auswahl persönlicher Paradigmata.

W. Marti holte gegen Ende der Diskussion zu einer, die Diskussionsstimmung zusammenfassenden Eloge auf Leacock und seine Verdienste aus: Leacocks große Utopie habe ursprünglich begeisterte Zustimmung und engagierte Nachahmer gefunden: seine Erfindungen seien beispielgebend gewesen. Leacock habe dramaturgische Mittel entwickelt, die geradezu umwerfende Wirkungen gezeitigt hätten. Ausführlich referierte Marti einige Beispiele aus Leacocks Filmen. Diese und ähnliche Beitragsformen veranlaßten wiederum W. Ruzicka zu der bitteren Bemerkung, die Diskussion gestalte sich zum Leichenbegängnis, die Beiträge sich zu Grabesreden.

Wildenhahn ging auf diese Bemerkung mit einer differenzierten Stellungnahme ein, die leider nicht mehr diskutiert werden konnte, obwohl die Erörterung ihrer geschichtsphilosophischen Hintergründe gerade der Gegenwart, ihren prekären Verbundenheiten und Geschichtsladungen, die als Sprengsätze an ihr lagern, einiges – zumindest dem Dokumentarfilm – Wesentliches hätte abgewinnen können. Wildenhahn erwiderte auf Ruzicka, Erfahrungen könne man erst betrachten und organisieren, wenn etwas abgelaufen, vorübergegangen sei. Die Retrospektive sage jedoch gleichzeitig etwas über die Gegenwart aus, denn die Vergangenheit sei keinesfalls etwas Abgeschlossenes oder Vergangenes. Wildenhahn bezeichnete dies als die Offenheit der Vergangenheit zur Gegenwart hin.