Esther Kinsky

Sehen lernen

Vor einigen Wochen gab es in Wien eine Reihe von Filmen, Werkstattgesprächen und Diskussionen zum Thema „Anthropozän“, ein Dialog, wie es hieß, zwischen Kunst und Wissenschaft. An einem Abend stand „Thirteen Lakes“ von James Benning auf dem Programm, und Benning würde persönlich anwesend sein. Die Einführung übernahm ein Wissenschaftler, ich weiß nicht mehr welchen Fachs. Er ging ein wenig auf die Geschichte einzelner Seen ein, die im Film gezeigt werden sollten, manche von ihnen sind künstlich angelegt, andere haben in den Jahren seit der Entstehung des Films dramatische Veränderungen erfahren, teils bedingt durch den Klimawandel, teils durch menschliche Eingriffe. Die einleitende Frage an Benning nun war, ob er diese Geschichten menschlicher Interventionen und ihrer Folgen bei seinem Projekt im Kopf gehabt habe und die Auswirkungen des menschlichen Umgangs mit der Welt habe zeigen wollen. Nein, sagte Benning mit Nachdruck. Ursprünglich sei es ihm nur darum gegangen, Sequenzen zu schaffen, in denen die obere Hälfte des Bildes zeigt, woher Licht kommt, und die untere Hälfte des Bildes zeigt, wohin Licht fällt. Er habe anfangs keinen anderen Gedanken gehabt als eine Vorstellung des Bildes. Nichts außerhalb des Blicks, kein Thema, keine Fragestellung.

Wer James Bennings Arbeit kennt, wird von dieser Antwort nicht überrascht sein. So eindeutig die im weitesten Sinne politische Dimension eines jeden seiner Werke ist, so eindeutig sind auch Struktur und eine formale Definition des Blicks der Ausgangspunkt und Ursprung seiner Arbeit. Immer geht es um Arten und Weisen des Sehens, nicht um das „Was“ des Sichtbaren, sondern um das „Wie“ der Betrachtung. Um das Sich-Einlassen auf einen Ausschnitt Welt, den man im Blick hat, um das Neben-, Nach-, und Miteinander solcher Ausschnitte, die Spannungen, die sich in diesen Verhältnissen auftun. Mit welchem Bewusstsein, welcher Geduld, welcher Erfahrung, mit welcher Bereitschaft zur Offenheit: für ein Bild, eine Landschaft, eine Oberfläche, eine Wiederholung, für Licht. Wie kann ich etwas erkennen, wenn ich auf eine bestimmte Art und Weise sehe – das ist die Frage, von denen sein Filmen ausgeht. Das Sehen ist nicht mehr passive Aufnahme , sondern bewusste Aktivität. Nicht alle Zuschauer:innen sind bereit, ihm auf seine visuellen Erkundungen zu folgen, manchen fehlt das Interesse, den meisten fehlt vor allem die Geduld, heute eine der meistunterschätzten Eigenschaften, ohne die allerdings viele der Filme, die für mich am wichtigsten sind, nicht zugänglich werden.

An Geduld mangelt es James Benning nicht. „Thirteen Lakes“, ein 133 Minuten langes Werk, besteht aus dreizehn je zehnminütigen Ansichten verschiedener Seen in Nordamerika. Die zehnminütigen Phasen sind jeweils durch mehrere Sekunden währende Schwärze voneinander abgesetzt. Die Kamera ist auf einem Stativ fixiert, wir sehen den festgelegten Zeitraum über den gewählten Ausschnitt, und wir sehen Licht. Wir hören Wasser, Wind, Motoren, Stimmen, Vögel, Schwimmende, Geräusche, die sich oft nichts Sichtbarem zuordnen lassen, wir sehen im Hintergrund das Drama des Widerscheins aufgehender Sonne auf felsigen Bergen, das langsame lautlose Manövrieren eines Frachtschiffs in ein Hafenbecken, Motorboote, die in rasender Geschwindigkeit und mit ohrenbetäubendem Lärm eine Wasserfläche überqueren, Schatten, Pflanzen, ein Grau, in dem Erde und Himmel ineinander verschwimmen. Und immer sehen wir Himmel in allen Schattierungen, das Wasser als klaren, bewegten, stillen oder blinden Spiegel, immer die Teilung des Bilds in das Woher des Lichts und das Wohin.

Es geht nicht um Effekte, sondern um die Erkundung einer Gegebenheit, der sich der Blick überlässt. Es ist ein Kunstwerk, das nur durch diesen Blick bestimmt ist, keine Information mischt sich ins Bild, die Namen der Seen werden erst im Abspann genannt. Wer hinschaut, muss sehen, und auch wer widerstrebend schaut, weil sie oder er sich vielleicht in den falschen Film verirrt hat, lernt womöglich eine noch nie zuvor erfahrene Art des Sehens. Jede der dreizehn Betrachtungen eines Ausschnitts, der gewiss gründlich erwogen, erkundet und mit Bedacht ausgewählt worden ist, vermittelt eine Lektion im Sehen. Nur der Ausschnitt ist vorgegeben, die Entscheidung des Filmemachers – basierend auf der persönlichen Erfahrung eines Orts und der daraus erwachsenen Vertrautheit mit bestimmten sozialern politischen, historischen Zusammenhängen. In einem Interview sagt Benning: „If I made a film in another country, …, given what I knew, I’d accidentally misrepresent things because there’s so much I don’t know.” Diese Art von Ehrlichkeit und Vertrautheit mit einem Ort ermöglicht es Benning, für ein Publikum ein leinwandgroßes Fenster zu öffnen, eine Sicht auf etwas Neues und Fremdes, über das da Publikum wiederum nichts zu wissen braucht, um zu sehen und vielleicht zu erkennen – das Was der Erkenntnis bleibt offen. Doch wie man sich einlässt, wie man sich öffnet, die Bilder auf sich wirken lässt, welcher Bewegung man folgt, das ist der Stoff, an dem man lernt. It is seeing which establishes our place in the surrounding world, wie John Berger vor über fünfzig Jahren in seinem Buch „Ways of Seeing“ schrieb und damit definierte, in welchem Maße das Sehen als Aktivität politisch sein kann.

Der Blick – the gaze wie es auf Englisch heißt – ist immer das, was die Zuschauenden, manchmal auch unmerklich, wenn Handlung und Tempo alles zu definieren scheinen, durch einen Film führt. Vor der Leinwand oder dem Bildschirm haben wir keine Wahl, wir können nicht in eine andere Richtung schauen als die Kamera. In handlungsintensiven Filmen vergisst man diesen Umstand leicht, weil das Narrativ die Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Je mehr in einem action-film passiert, desto weniger sieht man, weil das, was im Bild stattfindet, nicht nur hierarchisch angelegt ist, sondern auch linear ein Ziel verfolgt. Den obersten Rang nimmt das ein, was für das Verständnis des plots wichtig ist, der auf eine Auflösung, ein Finale zusteuert. In James Bennings „Thirteen Lakes“ hingegen beherrscht das stille Bild alles. Keine Handlung, keine Akteure, kein Kommentar zum Kontext eines Ortes lenkt ab. Die Hierarchie – wenn es eine solche geben soll – bestimmen die individuellen Sehenden. Diese Ermächtigung zur Gestaltung einer eigenen, individuellen Hierarchie beim Sehen ist – wie jede Form der Freiheit – nicht für jede:n ein Gewinn. Sie kann verunsichern, weil sie gegen etablierte Sehgewohnheiten verstößt, und sie kann das Gefühl vermitteln, einer Aufgabe nicht gerecht zu werden, weil man nicht weiß, auf was man achten soll. Artikulierte Erwartungen in Gestalt eines „Was“ – Problemstellung, Anliegen, Zweck, aber auch Eindeutigkeit einer ethischen, kulturellen, ideologischen Zugehörigkeit etwa – mögen viele als notwendig empfinden, weil das „Wie“ zu viele Möglichkeiten bietet. Die Unklarheit einer Autor:innenintention in gleich welcher Kunstform stellt immer eine Anforderung dar. Man kann versuchen, ihr gerecht zu werden oder sich verweigern. Manche entscheiden sich in ihrer Ratlosigkeit für die lästigste Frage überhaupt, mit der man als Künstlerin konfrontiert sein kann: „Warum?“.

Ich bin keine Filmemacherin, sondern Schriftstellerin, und finde in der Literatur keine Entsprechung für die Rolle des Blicks im Film. Allenfalls eine erzählende Stimme könnte diese Funktion übernehmen, doch wo sollte diese Stimme positioniert sein? Die Sprache ist immer auch die gängige Währung unserer Kommunikation, und bei dem Wunsch, etwas sprachlich zu vermitteln, können wir den Boden des festgelegten Konsens über eine Bedeutung der Worte nur bedingt verlassen, egal wie poetisch, wie eigentümlich, wie unkonventionell die gewählte Sprache auch sein mag. Das Auge hingegen hat eine größere Freiheit, den Blick in eine Form zu bringen, die keinen Konsens voraussetzt und einen anderen Zugang zum Poetischen eröffnet als die Sprache.

Das Poetische ist hier nicht als vager Begriff gemeint, der – wie der Duden unpassenderweise vorschlägt – etwas „Stimmungsvolles“ bezeichnet. Beim Poetischen geht es um die Verdichtung einer Erkenntnis oder Einsicht zu einem vorher noch nicht dagewesenen künstlerischen Ausdruck. Das Poetische hat etwas mit Hervorbringung zu tun, mit dem schöpferischen Impuls, der sich in jeder künstlerischen Arbeit manifestieren kann. Wie die Form in der Dichtung gehört immer ein gewisses formales Konzept – wie etwa die festen Zeitrahmen und Bildstrukturen bei Benning – zum poetischen Ausdruck, der sonst tatsächlich in das abrutschen würde, was der Duden als „stimmungsvoll“ bezeichnet. Ich arbeite nicht handlungs- und fabelbezogen und verweise gerne auf den schottischen Autor Jeff Torrington, der vor vielen Jahren in einem Interview sagte: plots are for graveyards – plot hat im Englischen unter anderem auch die Bedeutung Grabplatz, und der Begriff gehört Torringtons Meinung nach in jeder seiner Bedeutungen auf den Friedhof. Aber es geht nicht nur um die Nebenrangigkeit von Handlungsstringenz und narrativer Kurve, das wäre zu einfach und gleichzeitig irreführend. James Joyce zum Beispiel war auch kein handlungsbezogener Dichter, doch sein Raum war die Sprache in ihren unzähligen unergründlichen Schichten, die Sprache als Material, das Geschichtsträger und Geschichtsformer zugleich ist.

Insoweit ich überhaupt etwas über mein eigenes Schreiben sagen kann, wäre es ein umgekehrter Weg im Vergleich zu sprachexperimentellen Autor:nnen: das Sehen als Weg zur Wortfindung, ein Prozess des Gehens und Sehens und Hinschauens, der erst den Wortraum eröffnet. Neben dem Schreiben fotografiere ich auch, das Fotografieren ist Teil des Entstehungsprozesses einer Arbeit, eine Art Raumerkundung. Diese Fotografien haben allerdings nie die Funktion, das Geschriebene zu illustrieren, sie dienen als Manifestationen meiner Auseinandersetzung mit Sehprozessen, aus denen sich gelegentlich eigene, nur im Bild verankerte Narrative ergeben.

Zudem aber – und das hat nur vermittelt mit meiner Tätigkeit als Autorin zu tun – bin ich Filmeseherin im Kino. Das Kino ist unbedingt der Ort für den Film, der Ort des Sich-Einlassens auf das Bild. Und aus Filmen – vor allem solchen, die mir die Freiheit lassen, meine eigene Hierarchie zu bestimmen, habe ich für meine Arbeit wesentlich mehr gelernt als aus der Literatur. Die Lehren, die ich aus dem Film gezogen habe, haben eben vor allem mit einem zu tun: mit dem Blick. Mit dem Wie des Sehens, den Formen der unvoreingenommenen Annäherung an einen Ort, mit der Befragung von visuellen Hierarchien und der Interpretation einer „Aussicht“, je nach der vorhandenen Prägung durch Wissen oder Erwartung, sie haben mit der Schaffung eines Zeit-Raums zu tun, der, ähnlich wie in der Musik, seinen eigenen Gesetzen folgt und Tiefenschichten hat, nicht nur einen linearen Verlauf.

Doch vor allem habe ich aus den mir liebsten Filme gelernt, dass man dem Publikum – sei es sehend oder lesend – eines immer abverlangen muss, und das ist Geduld. Ich sage muss, weil es keinen Kompromiss geben darf, kein Entgegenkommen im Sinne von Beschleunigung und Handlungsdynamik, wenn es darum gehen soll, dass die Wahrnehmungsfähigkeit nicht zum Konsum von Eindrücken angeregt, sondern zu dem bewegt werden soll, was man auf Englisch engagement nennt, einer Offenheit, die zu einer tiefergehenden Befragung des Wahrgenommenen führt und die Eindrücke im individuellen mentalen, intellektuellen und emotionalen Raum umsetzen kann, anstatt nur auf der affektiven Ebene. In der Sprache erscheint es mir schwieriger, solche Prozesse auszulösen, weil man immer mit einem funktionalen Regelwerk zu ringen hat, das unterwandert oder zumindest implizit hinterfragt werden muss, um auf Ebenen jenseits der verbalen Verständigung hinzuführen. Die Regeln der Sprache sind auf ihre Nutzbarkeit als Kommunikationsmittel angelegt und nicht auf ihr poetisches Potential. Es ist viel schwieriger, sich unvoreingenommen auf Worte einzulassen als auf Bilder.

Zum Blick gehören immer ein Subjekt und ein Objekt sowie im Fall des vermittelten Blicks – in Gestalt von Fotografie und Film – die außenstehenden Betrachter. Die Betrachter öffnen den dialogischen Raum zwischen Objekt und Subjekt zum Dreieck. Die Möglichkeit dafür schafft eine Maschinerie, die Kamera, das ganze Instrumentarium des Films, der als Kunst mehr als jede andere mit dem sogenannten Anthropozän verbunden ist, um noch einmal auf den Ausgangspunkt von Bennings Anlass in Wien zurückzukommen. Der ungarische Filmtheoretiker, Drehbuchautor und Filmkritiker der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, Béla Balázs bezeichnete den Film als die bedeutendste kulturelle Errungenschaft der Menschheit, die Wahrnehmung und Erinnerung revolutioniert und die Menschen ein anderes Sehen, ein ganz neues Potential des Blicks gelehrt hat, als es vor dem Film existierte. Eine Lehre, die ihrerseits gelehrt werden müsste, in deren Mittel und Möglichkeiten die Menschen in der Schule unterwiesen werden müssten. Dieser Filmunterricht sollte nicht nur vermitteln, was mit diesem Medium zu machen ist, sondern auch ein Verständnis dafür wecken, was dieses Medium mit dem Menschen machen kann, wie manipuliert die scheinbar abgebildete Wirklichkeit sein kann und wie die Präsentation von Abgebildetem als Wirklichkeit die Betrachter manipulieren kann.

In der unlängst erschienenen Dokumentation „Filmstunde“ von Edgar Reitz wird diese Frage thematisiert und praktisch erkundet. 1968, etwa um die Zeit, in der John Berger die bahnbrechende Fernsehserie und das dazugehörige Buch „Ways of Seeing“ konzipierte, hatte der damals fünfunddreißigjährige Edgar Reitz die Gelegenheit zu einem Experiment: einen Monat lang unterrichtete er die neunte Klasse eines Mädchengymnasiums in dem Fach Film, wobei der Unterricht selbst auch filmisch dokumentiert wurde. Die Dokumentation „Filmstunde“, die ich vor ein paar Wochen auf der Viennale gesehen habe, besteht aus Ausschnitten des damals aufgezeichneten Unterrichts, Einblicken in die Abschlussarbeiten der Mädchen, die jeweils eine Super-8-Kamera zur Verfügung gestellt bekamen, und Aufzeichnungen eines Treffens des inzwischen 90-jährigen Reitz mit den Frauen, die damals seine Schülerinnen waren.

Vieles an dem Film ist auf eine unaufgeregte Weise bewegend: Der Glaube an die Bedeutung des Mediums und seine revolutionären Fähigkeiten in der Verarbeitung unserer Eindrücke und unseres Verhältnisses zur Welt, die uns umgibt, die Offenheit der Mädchen für die Lektionen, die Reitz vermittelt, ob es um technische Einzelheiten im Verhältnis der Kamera zum Objekt geht oder um die unerlässliche Kollaboration von Menschen, die es braucht, um einen Film fertigzustellen, oder um die Klärung der eigenen Position in Welt, Geschichte, Gesellschaft, wenn man eine Kamera zur Hand nimmt. All das findet seinen Niederschlag in den Szenen aus den Abschlussfilmen der Mädchen. Für manche, die Ende der sechziger Jahre in München ein humanistisches Mädchengymnasium besuchten, war das sicher ein riesiger politischer Schritt. Vor allem eines haben sie gelernt: Dass jede Kunst beim eigenen Leben beginnt, nicht als Selbstbespiegelung, sondern als Öffnung, als Erkenntnis, dass sich der eigene Blick in eine visuelle Form bringen lässt, die anderen Menschen etwas Bleibendes vermittelt.

Manche mögen jetzt einwenden, dass heute der Zugang zum Filmen durch die digitalen Geräte viel einfacher ist, und diese Lehre damit allen offensteht, doch bei aller Bewunderung, die ich für manche – höchst reflektierte – Projekte habe, die mit einfachen, kleinen Mobiltelefonen verwirklicht wurden, möchte ich dagegen zwei Dinge einwenden: das eine ist – sehr altmodisch – mein Glaube an die Notwendigkeit des Materials. Ich fotografiere nur analog, ein Film hat zwölf Aufnahmen, die Entwicklung kostet um die 20 Euro. Das erzieht zu einem bewussteren Umgang mit dem Medium, nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen, sondern auch weil Zeit vergeht zwischen der Aufnahme und der Sichtung des Ergebnisses, manchmal, wenn kein Labor in der Nähe ist, vergehen Wochen. Man überlegt sich sehr genau, was man in Anbetracht bestimmter Lichtverhältnisse und des eingelegten Filmmaterials will und was man erwarten kann. Diese Überlegungen sind auch ein Beitrag zum Sehen lernen, Fehler lassen sich nicht einfach löschen. Neben der Ungreifbarkeit des Materials aber ist es die Bilderschwemme, unserer derzeitigen Wirklichkeit, die kaum noch Distanz und Reflektion über den eigenen Blick ermöglicht. Wenn man unentwegt mit Sprechaufnahmen beschallt würde, würde das Schreiben auch schwerfallen, es gäbe nicht mehr diesen Raum zwischen dem Gedanken und dem eigenen Wort, interferenzfrei und still. Wir leben in einem Bilderlärm, und vielen ist schon gar nicht mehr bewusst, auf welche Weise die Technik der kleinen stets griffbereiten Telefonkameras das mit dem bloßen Auge Gesehene verändert. Wer unentwegt auf diese Weise filmt und fotografiert, verlernt das Sehen und entfremdet sich dem Blick.

Reitz selbst räumte schon 1968 in seinen Äußerungen zu dem Experiment Filmunterricht ein, dass er es mit privilegierten Kindern zu tun hatte, die vorwiegend aus bildungsbürgerlichen Familien stammten, und dass es umso spannender gewesen wäre, diesen Unterricht auch in anderen Schulen durchführen zu können, wo Kinder einen ganz anderen Blick auf die Welt umgesetzt hätten. Daran, dass es für jedes Kind eine prägende und fruchtbare Erfahrung sein könnte – hätte sein können – kann nach diesem Film niemand zweifeln. Was durch die Herkunft der Mädchen aus einer sehr dünnen, behaglichen Gesellschaftsschicht der vergessensfreudigen Bundesrepublik gut zwei Jahrzehnte nach Kriegsende allerdings nicht zum Ausdruck kommt, ist ein Verhältnis zur Geschichte. Ein krasses Gegenbeispiel an Bewusstsein vertritt die etwa gleichaltrige Chantal Akerman in Brüssel, Tochter von Überlebenden der Shoah, die in ähnlichem Alter zu einer Super-8-Kamera griff, um ihren Blick zu artikulieren. Sie folgte von Anfang an einer inneren Notwendigkeit, die zunehmend übrigens auch schreibend ihren Ausdruck fand – „Ma mère rit“ zum Beispiel ist ein grandioses Buch, das zwar szenisch angelegt ist, aber nur mit Sprache arbeitet, nicht mit dem Versuch, Bilder und Anblicke in Worte umzusetzen. Ich möchte zum Abschluss nur auf eines ihrer Werke eingehen, auf den dokumentarischen Film „D’Est“, der eine ganz eigene Seh-Lektion enthält.

Ein Blick durch die Kamera ist immer persönlich. Hinter der Kamera kann es ein Auge geben, das teilen will und die Zuschauenden einlädt, den eigenen Blick sozusagen mitzubewohnen, aber es kann auch ein Auge sein, das die Zuschauenden nie vergessen lassen möchte, dass zwischen ihnen und der Leinwand ein fremder Blick steht, die Linse eines Auges, das hier vermittelt und damit selbstverständlich auch einlädt, aber auf Distanz bleibt. In „D’Est“ spielt die Kamera eine große Rolle als Vermittlerin dieses fremden, suchenden, tastenden, forschenden Auges. Die Kamera verharrt an einem Punkt und blickt auf leere oder wie zufällig und undefinierbar bestückte Landschaften, sie fährt an Gesichtern vorbei, sie schwenkt im Kreis. Sequenzen, Gesichter, Häuserfronten, Straßenzüge, Ausblicke kehren wieder, wiederholen sich, ist es eine Schlaufe, ist es eine Rückkehr, ein neuer Ansatz am bekannten Ort? Die Kamera ist der Apparat, der zwischen Auge und Welt steht, Möglichkeiten auslotet, manchmal das Auge auch schützt, Deckung bietet. Wie haben die Gefilmten sie wahrgenommen, fragt man sich unwillkürlich und entwickelt ein notgedrungen einseitiges Verhältnis zu einzelnen Gesichtern,versucht darin zu lesen.

In „D’Est“ ist Chantal Akerman eine neue Art von „Mensch mit der Kamera“ – wie Dziga Vertovs Film eigentlich heißt, (vom Mann ist nämlich im Original nicht die Rede) – dessen Enthusiasmus und hoffnungsvolle Aufbruchstimmung einer tiefen posttraumatischen Verunsicherung gewichen sind. Chantal Akerman, die ihr Leben lang am Schweigen der Mutter über ihre Erfahrungen in Auschwitz litt, ringt in diesen Aufnahmen um eine außenstehende Sehweise, die eine kollektive Erschütterung zum Ausdruck bringen will. In Polen, Rumänien und Russland bis in seine entferntesten Winkel sind Menschen nach der Umwälzung eines Systems und einer Gesellschaft in Bewegung, meistens getrieben von der Not, sie stehen an Bushaltestellen und klammern sich an Ergattertes oder aus einem alten Leben Gerettetes, sie biwakieren auf Bahnhöfen, sie sind müde, ratlos, ohne Ort. Man fühlt sich diesem Blick verbunden, will ihm folgen, ihn verstehen, vielleicht in der Hoffnung, ihn irgendwie durch Mitgefühl zu trösten, doch vor allem gebannt von dieser traurigen Unersättlichkeit des Blicks.

„D’Est“ ist aus allen möglichen Gründen Welten von Bennings „Thirteen Lakes“ entfernt, doch beide Filme arbeiten nur mit dem Blick und vertrauen auf diese visuelle Kraft, die Betrachtende in den Bann zieht. Beide Filme gehen keinerlei narrativen Kompromisse ein, sie verlassen sich auf Form und Struktur, doch auch auf die Eindeutigkeit einer persönlichen Anteilnahme am Gesehenen, die als unsichtbare Botschaft an die Wahrnehmungsvermögen der Zuschauer:innen appelliert, sie vielleicht sogar ergreift und zu einer bleibenden Erkenntnis bringt, etwa über die großen menschengemachten Katastrophen des Anthropozän.

Dieser Text ist die Verschriftlichung eines Vortrags, den die Autorin auf der 48. Duisburger Filmwoche im Rahmen des En Plus-Programms am Mittwoch, den 6.11. gehalten hat.