Synopse
Flirrende Sommerhitze an der italienischen Adriaküste. Kilometerweit stehen die Sonnenschirme dicht an dicht, rhythmisch verrenken sich sonnengebräunte Körper zu blecherner Musik. Hinter den Kulissen werden Hotelbetten aufgeschüttelt, Liegestühle bespannt, Tellerränder gesäubert: Die Arbeitsroutinen unzähliger Saisonarbeiter:innen offenbaren den Tourismus-Apparat. Nachts erstrahlt der Strand im Licht der Müllautos, im Sand Plastiküberreste der letzten Party.
Protokoll
Dem Diskussionsraum am Samstagvormittag scheint die Erschöpfung der weit fortgeschrittenen Festivalwoche eingeschrieben. Glücklicherweise lädt die Beobachtung von Saisonarbeit in „Vista Mare“ dazu ein, den Blick in den Bildern der italienischen Adriaküste schweifen zu lassen.
Das Gespräch beginnend fragt Moderator Patrick Holzapfel das Filmemacher:innenduo Julia Gutweniger und Florian Kofler, ob sie sich ursprünglich für die Orte oder die Perspektive auf Arbeit interessiert hätten. Gutweniger erzählt, dass sie sich schon seit zehn Jahren für monofunktionale Orte interessieren. Bei einem Projekt über Rettungsschwimmer:innen in Küstenregionen sei ihr Blick 2019 dann für unsichtbare Arbeit geschärft worden.
Holzapfel möchte mehr über die klar gesetzte zeitliche Rahmung des Films erfahren. Er wirft in den Raum, dass die beiden auch außerhalb der Urlaubssaison hätten drehen können. Jedoch gerade die Betriebszeit und das Begleiten der Saisonarbeit haben sie interessiert, erwidert Kofler. Wie das Verhältnis zu den Arbeitenden gewesen sei, möchte Holzapfel daraufhin wissen. Kofler zufolge stellten die Filmemacher:innen ein Jahr zuvor ihr Projekt den Arbeiter:innen der Region vor. Aufgrund der dynamischen Arbeitsverhältnisse vor Ort sei ein Teil der Menschen dann im Drehzeitraum nicht mehr angestellt gewesen, woraufhin sich glücklicherweise andere Protagonist:innen gefunden hätten.
Holzapfel lenkt das Gespräch auf die formale Ebene: Die Auswahlkommission habe bei der Sichtung von „Vista Mare“ über die Ästhetik des Films gesprochen. Fast schon als eine Art Genre des österreichischen Dokumentarfilms ließen sich die additiv montierten, statischen Totalen im Film beschreiben. „Warum diese Form?“ Gutweniger verteidigt, bei der Ästhetik des Films handele es sich um ihre künstlerische Sprache, die im Übrigen bei dieser Arbeit von einigen bewegten Einstellungen durchbrochen sei. Die Aneinanderreihung der Szenen habe sich im Schnitt ergeben und die Bildgestaltung entstehe durch ihren Malereihintergrund – sie „denke in statischen Bildern“. Es interessiere ihn, die kleinen Zahnrädchen und Momente des Massentourismus zu suchen, ergänzt Kofler.
Aus der klaren Form des Films falle die Szene mit der Gewerkschaftsdemo wiederum raus, so Holzapfel. Sie tauche plötzlich auf und verschwinde dann wieder. Warum? Kofler erläutert, in seinen Augen könnten die Arbeitsverhältnisse nicht klarer als in dieser Szene formuliert werden, daher sei sie von dramaturgischer Wichtigkeit.
Holzapfel fährt fort, den Blick des Films als neutral beobachtend zu beschreiben. Die Musiknutzung erzeuge im Gegensatz dazu eine in Beschreibungen des Films oft als „surreal“ bezeichnete Stimmung. Er verwende lieber die Formulierung „unheilvoll“ und würde gerne mehr über die Idee dahinter erfahren. Die nächste Frage gleich anschließend, interessiert sich der Moderator zudem für die „Massenbilder“, in denen eine Vielzahl von Urlauber:innen eingefangen wird. Diese unterschieden sich von den Bildern der Arbeit. Gutweniger antwortet: Für eine Art von Abstraktionsebene sei immer schon Musik angedacht gewesen. Diese solle Abstand schaffen und Stimmung erzeugen. Ob die Musik dann als „unheilvoll“ rezipiert werde, läge in der individuellen Wahrnehmung. Kofler fügt an, dass die Musik außerdem ein anderes Tempo kreiere. Die Filmemacher:innen seien generell bedacht, im Film einen Tempowechsel zu vollziehen, indem sie alltäglichen Szenen länger als gewöhnlich zuschauen.
Als Nils Menrad sich aus dem Publikum mit kritischen Anmerkungen zu Wort meldet, öffnet sich das Gespräch. Er sei erstaunt über die Behauptung des Duos, sich im Film auf die Arbeitenden zu fokussieren. Seien die Protagonist:innen in „Vista Mare“ nicht bloß als stille Ausführungsgehilfen des Systems dargestellt? Er fragt sich weiterhin, warum die Kameraeinstellungen und Brennweiten so gewählt seien, dass es an den Urlaubsorten noch dichter aussähe als ohnehin schon. Abschließend problematisiert er, ob der Film sich nicht bloß auf das ausbeuterische System des Massentourismus „draufsetze“. Er bemüht die bereits mehrfach diese Woche gefallene Formulierung der „geilen Bilder“: Im Herstellen „geiler Bilder“ reproduziere „Vista Mare“ das System. Gutweniger erwidert, ihr gehe es um die Beobachtung des Systems und die Zuspitzung auf der Kameraebene würde sie abstreiten wollen: es sei nicht das Ziel gewesen, die Urlaubsorte übertrieben oder schlecht darzustellen und dort hielten sich in der Hochsaison schlicht viele Menschen auf. Kofler wiederum reagiert ausweichend mit „weiß ich nicht“ auf Menrads Anmerkung bezüglich des „Draufsetzens“. Sie seien bei den Dreharbeiten „dazwischen unterwegs“ gewesen.
Eine weiter Publikumsstimme beobachtet, dass im Film weder positive Gefühle der Urlauber:innen noch negative Emotionen der Arbeiter:innen spürbar würden. Warum seien diese „rausgelöscht“? Kofler konstatiert daraufhin, dass sie nicht investigativ arbeiten würden, sondern den „normalen Arbeitsablauf“ beobachten. Bei einem Screening in Italien habe das Publikum außerdem durchaus Zwischentöne wahrgenommen. Die Situation sei im Hinblick auf das Verhältnis von Ausbeutung und Urlaubsspaß nicht so schwarz-weiß zu betrachten, fügt Gutweniger hinzu und erläutert kurz die Vielfalt der Arbeitssituationen von Saisonarbeiter:innen.
Eine Stimme aus dem Publikum beschreibt im Folgenden den Blick des Films als „stark von außen“ und dadurch an Menschlichem ebenso wie an Nicht-Menschlichem interessiert. In einer Art „Systemportrait“ würden die Systemhelfer:innen und die Inszenierung der Urlaubsidylle wie ineinandergreifende Zahnräder beobachtet. „Vista Mare“ suche dabei keinen „ganz menschlichen Blick“. Kofler kann mit dieser Zuschreibung nur bedingt etwas anfangen: Er wisse nicht, ob der Blick nicht menschlich sei. Seiner Auffassung nach entspreche er sehr ihrer Perspektive als Filmemacher:innen. Eine Art diskrete Nähe, ein distanziert fragender, bisweilen gar analytisch kühler Blick sei ihr Ziel gewesen. Der Formulierung „kühl“ möchte seine Regiekollegin jedoch widersprechen. Der Film sei für sie ein Nachdenken über das System Saisonarbeit und die Gemachtheit der Urlaubsorte.
Hier lässt sich an Patrick Holzapfels Anmoderation im Kino erinnern: Schon da strich er die Thematik des Blicks in „Vista Mare“ hervor – auch in Verbindung zum Filmtitel. Weiterhin zog er Parallelen zwischen Tourismus und Dokumentarischem, genauer: dem touristischen und dem dokumentarischen Blick. Im Kontext der Diskussion eröffnet seine Bemerkung auf produktive Weise eine weitere Ebene im Nachdenken über die Distanz der Bilder.
Ein Kommentar Michelle Kochs knüpft von anderer Seite an den Blickdiskurs an: Sie beschreibt, wie durch die Perspektive des Films das System Massentourismus als ein System der Kulissen begreifbar werde. Die Struktur von Vor- und Hinterbühne der Urlaubsorte würde besonders in den Szenen im Miniaturwunderland erkennbar. „Vista Mare“ mache zugleich die Inszeniertheit des Urlaubsparadies‘ wie auch das System was diese Inszenierungen leistet sichtbar. Koch verweist zudem auf die erste Szene des Films, als der Naturraum Strand noch nicht der Urlaubsidylle entspricht und von Maschinen auf die Inszenierung vorbereitet wird. Holzapfel möchte daran anschließend wissen, ob die Filmemacher:innen vor Ort neben der menschlichen Ausbeutung auch eine Ausbeutung der Naturräume wahrgenommen hätten. Gutweniger bestätigt dies und ergänzt, dass künstliche Landschaften sie sehr interessieren. Kofler fährt fort, die Ausbeutung der Natur sei beispielsweise beim Einfangen der nächtlichen Strandreinigung ein wichtiger Aspekt gewesen.
Obwohl „Vista Mare“ die Arbeit hinter den Kulissen der Urlaubsidylle beleuchtet und ihre Konstruktion hinterfragt, lassen sich kritische Fragen zur Perspektive des Films formulieren, die im vormittäglichen Gespräch nur zart anklingen. Wäre der Film am Abend zuvor vom Publikum der „La Empresa“-Diskussion besprochen worden, wäre das Gespräch vermutlich in einer anderen Temperatur verlaufen.