Film

I‘Tikaaf
von Raaed Al Kour, Anna-Maria Dutoit
DE 2021 | 32 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 46
11.11.2022

Diskussion
Podium: Raaed Al Kour, Anna-Maria Dutoit
Moderation: Nils Menrad
Protokoll: Noemi Ehrat

Synopse

Fünf mal Ramadan ohne die Familie. Die Postbotin kommt, wieder keine Nachricht von der Migrationsbehörde. Ahmad und Bilal leben seit sechs Monaten bei einem Pastor im Kirchenasyl. Jenseits des Zaunes droht ihnen die Abschiebung, diesseits vergeht die Zeit wie langsam fallender Regen. Ein Alltag der Annäherungen und Unterschiede. Tischgebet, Haare färben, Rasen mähen. Drei Männer halten zusammen und halten sich aus.

Protokoll

„l’Tikaaf“ hat etwas Meditatives: Wir schauen den Brüdern Ahmad und Bilal zu, wie sie auf ihren Handys Spiele spielen, den Rasen mähen, Krafttraining machen. Die Kamera ist dabei fast immer im Haus, in dem die beiden wohnen, platziert; oft wird der Blick durch ein Fenster oder eine Tür gerahmt. Moderator Nils Menrad nennt dies „starke symbolische Bilder“, der Film sei formal streng aufgebaut. Co-Regisseur Raaed Al Kour erklärt, dass sie von Anfang an entschieden hätten, dass die Kamera drinnen bleibe. „Die Kamera soll ein Freund von Ahmad und Bilal sein und nicht als Fremde von draussen reinschauen“, sagt er. Co-Regisseurin Anna-Maria Dutoit ergänzt, dass ihnen wichtig gewesen sei, dass man als Zuschauer:in bei den Protagonisten bleibe.

Denn in den 32 Minuten, die der Film dauert, wartet man mit Ahmad und Bilal. Wartet auf einen Brief, einen Anruf, der Bescheid gäbe, ob sie in Deutschland bleiben können, wie es weitergeht. Fast entsteht das Gefühl, sie seien per Zufall im Pfarrhaus von Klaus Wening gestrandet. Denn wer an Kirchenasyl denkt, denkt oft an Klöster und Priester. Auch eine freundschaftliche Beziehung und ein kameradschaftliches WG-Leben der drei Männer würde man aufgrund der extremen Umstände, die die Männer überhaupt zusammengebracht haben, vielleicht nicht erwarten. Selbst die Filmemacher:innen waren von der Situation überrascht. Aber sie hätten bei der Wahl ihrer Protagonisten schon nach einer Konstellation gesucht, bei der eine Beziehung zwischen den Geflüchteten und den Geistlichen besteht.

So spielt Pfarrer Wening selbst eine grosse Rolle im Film. Auch er entspricht keinem Klischee. Er ist tätowiert, er vaped und lässt sich die Haare und den Bart schwarz färben. Dennoch liegt der Fokus nicht unbedingt auf die Beziehung der dreien. „Im Schnittprozess haben wir uns dazu entschieden, der Geschichte über die Erfahrung im Exil mehr Raum zu geben“, sagt Dutoit. Insbesondere der psychologische Zustand von Ahmad und Bilal sollte im Mittelpunkt stehen.

Während Ahmad weiter hofft, artikuliert Bilal im Film, es sei ihm alles gleichgültig geworden. Ahmad sagt sogar, Bilal habe mehr Anrecht darauf, in Deutschland zu bleiben. Er habe mehr verloren – seine Zähne etwa. Es sind vielleicht überraschende Aussagen wie diese, die tiefer blicken lassen und den Film zusammen mit den klug gewählten Einstellungen ausmachen. Doch „l’Tikaaf“ ist auch lustig, etwa, wenn einer der beiden Männer seiner Freundin Sprachnachrichten schickt und sie fragt, „Der Regisseur starrt mich an, was soll ich machen?“.

Die Entscheidung, die Kamera standörtlich auf das Pfarrhaus zu beschränken, wird vom Publikum wiederholt hinterfragt. Man hätte gerne Bilder davon gesehen, wie die Brüder vorher gelebt hätten, was sie zurücklassen mussten. Dutoit antwortet, dass man eher versucht habe, dies durch Telefongespräche mit der Freundin oder dem Vater einzufangen. „Es war uns wichtig, den Raum visuell nicht zu verlassen, weil sie in dieser Situation gefangen sind.“ Schon vor des 15-tägigen Drehs hätten sie sich überlegt, wie sie komplexe Situationen filmisch erzählen können. Viel habe sich auch durch Gespräche mit den Protagonisten ergeben. Im Schnitt hätten sie dann gemerkt, dass Szenen wie diejenige über Bilals Zähne eigentlich so viel aussagten über die Flucht und das Leben im Asylheim. Die Gespräche geführt hat Al Kour, doch da das Übersetzen von Arabisch auf Deutsch nicht einfach war, hat Dutoit beim Übersetzen geholfen, die richtigen Formulierungen zu finden.

Auch Fragen zum Thema Aggression, WG-Problematiken und Religion werden durch Menrad beziehungsweise Alexander Scholz gestellt. Im Film werden sie nicht gross behandelt. Dies, da sie während des Drehs nicht vorkamen: „Ich habe Ahmad und Bilal schon mal gefragt, wie sie mit dem psychologischen Druck umgehen“, sagt Al Kour. Ahmad treibt beispielsweise Sport, während Bilal sehr klar sage, es interessiere ihn alles gar nicht mehr. Und Religion mag durch das Pfarrhaus sichtbar und beim Tischgebet hörbar sein. Doch gemäss Al Kour und Dutoit habe sie keine Rolle gespielt. Im Film wird zwar erwähnt, dass Ahmad und Bilal fünf Mal ohne ihre Familien Ramadan und zehn Mal Eid feiern mussten. Doch wie Al Kour sagt, habe dies nicht zwingend etwas mit Religion zu tun. In der arabischen Welt stehe es dafür, Zeit mit der Familie zu verbringen.

Eine Frau aus dem Publikum will zudem wissen, ob die Stoffe in Tarnfarben, die eines der Zimmer zieren, schon im Haus waren oder von Ahmad und Bilal gewünscht wurden. „Das war alles so eingerichtet“, sagt Dutoit. Al Kour ergänzt, dass Pfarrer Wening bei der freiwilligen Feuerwehr sei und deswegen einige militärisch anmutende Gegenstände im Haus habe. Diese würden im Film keine Rolle spielen.

Als Menrad die beiden Regisseur:innen kurz darum bittet, den Titel des Films zu erklären, sagt Al Kour dass der Ausdruck für eine Praxis im Islam stehe, bei der man sich für mehrere Tage zurückziehe und isoliere. „Es ist eine Art der Meditation.“ Es ist einerseits die erzwungene Meditation Ahmads und Bilals, die zum Nichtstun verdonnert auf dem immer gleichen Grundstück warten müssen.

Der Film kann aber auch als eine Meditation über Stereotype gelesen werden, denn sowohl Wening wie die beiden Brüder und erst recht ihr Zusammenleben wollen in keine vorgefassten Vorstellungen passen. Diese Sensibilität und Differenziertheit werden auch durch Szenen unterstrichen, in denen etwas Bilals Kater, Momo, zu Besuch vorbeigebracht wird. Ohne die Katze könne Bilal nicht leben, sagt Al Kour. Ja, es ist ein Film über die stagnierte Flucht. Aber es ist auch ein Film über das Zusammenleben dreier Männer, die sehr liebevoll miteinander umgehen. „Quasi fast schon eine Liebesgeschichte“, wie es Menrad auf den Punkt bringt.

In der letzten Szene verlässt die Kamera dann doch noch das Haus. Ahmad und Bilal lassen eine Drohne steigen, was sie die Nachbarschaft von oben erkunden lässt. „Schau, Bruder, es ist schön“, sagt der eine zum anderen.