Film

We Are All Detroit
von Ulrike Franke, Michael Loeken
DE 2021 | 118 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 45
13.11.2021

Diskussion
Podium: Ulrike Franke, Michael Loeken
Moderation: Luc Schaedler
Protokoll: Eva Königshofen

Synopse

Die Bagger krallen sich in die Wände und Dächer des Opel-Werks. Bochum 2014, Abriss einer Ära. 1643 schrieb Andreas Gryphius in einem Gedicht: „Wo jetzt noch Städte sind, wird eine Wiese sein.“ Scheint die Zukunft von Bochum in Detroit auf, der postindustriellen Dystopie im Mittleren Westen? Aus der Parallelität der Perspektiven tritt die Differenz hervor: dort urbane Ruinen, hier die Urbarmachung des Geländes für neue Firmen. Eine Langzeitbeobachtung über Verfall und Wiederaufbau.

Protokoll

„Ist ja quasi ein Heimspiel heute für uns Ruhrpöttler“, kündigen Ulrike Franke und Michael Loeken ihren Film „We Are All Detroit“ vor Beginn des Screenings an. Und nach Heimspiel klingt es auch, wenn Luc Schaedler zu Beginn des Filmgesprächs betont: „Die Kommission war sehr einverstanden mit eurem Film.“ Dass aber auch bei Heimspielen mit kontroversen Diskussionen zu rechnen ist, davon zeugte das Publikumsgespräch im Anschluss. Aber von vorn.

„We Are All Detroit“ ist eine zweistündige Auseinandersetzung mit Bochum und Detroit als ehemals zentrale Standorte der Autoindustrie, auf der Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten, nach persönlichen Geschichten und strukturellen Zusammenhängen. Bereits vor Schließung des Bochumer Opelwerks im Jahr 2014 hatten die Filmemacher:innen die Diskussion um den Standort verfolgt. Detroit, bekannt als Ruine einst blühender Industrie, erschien den beiden als aufschlussreiches geographisches Gegenüber. Ihr Interesse galt dem „großen globalen Prozess“ einer degenerierenden Industrie, erklärt Loeken den universalen Anklang des Filmtitels: Wir alle sind Detroit. Im Film erfährt das Publikum ebenso von den „Wunden, die die Umstrukturierung in den Städten hinterlassen hat“ (Schaedler) wie von Lebensmodellen, die sich auf verschiedenste Weise in diesen einrichten und mit ihnen umgehen. „Gleich ist, dass überall Arbeitsstrukturen ersetzt werden“, beschreibt Franke. In Bochum ist das einstige Opelwerk mittlerweile einem riesigen DHL-Paketzentrum gewichen, mit Arbeitsplätzen zu Konditionen, die in puncto Lohn und Sicherheit weit hinter denen der früheren Opel-Arbeiter:innen zurückbleiben. Detroit wurde vor einigen Jahren von einem rasanten Gentrifizierungsprozess erfasst, der unbezahlbare Mietpreise und prekäre Jobs in Scheinselbstständigkeit bei Uber & Co bedeutet.

Die Entwertung von Arbeit ist nicht erst seit diesem Film ein zentraler Gegenstand der Recherche von Franke und Loeken. In „We Are All Detroit“ richtet sich ihr Blick dabei vorwiegend auf die Gegenwart. Angesichts früherer Arbeitsbedingungen oder der Identifikation ganzer Stadtteile mit einem Konzern („die Opelaner“), sei es „ganz schwer, nicht in eine nostalgische Haltung zu verfallen“ betonen beide. Auch deshalb hätten sie sich dazu entschieden, nur sehr reduziert mit Footage zu arbeiten. Luc Schaedler, der sich vom Film größtenteils beeindruckt zeigt, äußert eine vorsichtige, wenn auch klare Kritik hinsichtlich der Perspektiven, die der Film einnimmt bzw. nicht einnimmt. Denn die „migrantische, also die der sogenannten ehemaligen Gastarbeiter:innen“, habe er „extrem vermisst“. Ob das eine bewusste Entscheidung gewesen sei? „Nein, tut mir leid, dass dir das gefehlt hat“, antwortet Franke, „manchmal kann man mit weniger Fakten mehr Wahrheiten erzählen.“ Später ergänzt sie, sie hätten nicht den Anspruch, alle Aspekte in einem Film unterzubringen.

Mit dieser Antwort wollen sich nicht alle im Publikum zufrieden geben. Neben einigen Rückfragen bezüglich Drehgenehmigungen und der gegenwärtigen Situation in Detroit, will Samuel Döring noch einmal zum Mangel migrantischer Perspektiven zurück. „Diese Stimmen hört man immer noch zu selten“, sagt er. Und dass der Film für ihn durchaus Potential hätte, er aber „nach einem Drittel resigniert habe, angesichts der ganzen Cis-Typen vor der Kamera.“ – „Der ganzen was?“, hakt Loeken nach. Döring scheint sich durch Loekens Verständnisfrage in dessen Unreflektiertheit bestätigt zu sehen, zumindest kontert er mit einem entsprechenden nicht gerade gesprächsfördernden Geräusch. Und das ist schade, denn Loekens Kommentar, er verstünde die Kritik, er frage sich aber, was das fürs dokumentarische Arbeiten bedeute, ist durchaus besprechenswert. Bringt er doch auf den Punkt, was in anderen Filmgesprächen der diesjährigen Filmwoche bereits vielfach diskutiert worden ist und was zugleich immer schon Bestandteil der Diskussion um Autor:innenschaft und Situierung im Dokumentarfilm war: Die Entwicklung einer dokumentarischen Ethik vor dem Hintergrund zeitgenössischer identitätspolitischer Debatten. Eine gute Antwort hat Doering auf Loekens Rückfrage meiner Meinung nach nicht parat – zugegebenermaßen ist es wohl auch unmöglich diese Frage ad hoc und im Rahmen dieser Gesprächssituation zu beantworten.

Dankbar bin ich Döring für sein Insistieren dennoch, könnte man doch auch anders herum argumentieren: Gerade weil die Frage nach Perspektive und Repräsentation immer auch schon den Dokumentarfilm berührt hat, hätte man sich von Loeken und Franke eine komplexere Antwort erwarten können. Der Saal jedenfalls scheint gespaltener Meinung, genervte „tsssss“ hört man da, sieht Köpfe nicken und Köpfe schütteln. Fest steht: „Spivaks Spirit“ – wie Maxi Braun in ihrem Protokoll zum gestrigen Filmgespräch zu „Zuhurs Töchter“ die Dringlichkeit nennt, mit der dort verwandte Themen diskutiert wurden – war auch in der heutigen Diskussion spürbar anwesend. Fest steht auch: Es gibt noch viel zu bereden.