Extra

Durchlässige Blicke, offene Irritationen. Grenzfälle des Dokumentarischen in den Arbeiten Merle Krögers und Philip Scheffners 

Duisburger Filmwoche 45
12.11.2021

Podium: Merle Kröger, Philip Scheffner,
Moderation: Brigitta Kuster
Protokoll: Mark Stöhr

„What kind of film do you want to shoot?“ fragt ein freundlicher Beamter Philip Scheffner zu Beginn von THE HALFMOON FILES. Mit Stift und Formular vor sich bittet er um Kategorisierung. Die filmische Praxis Scheffners und die literarischen Verfahren in Merle Krögers Texten fordern Labels und feste Zuordnungen heraus. Sie interessieren sich für unabgeschlossene Prozesse – schaffen künstlerische Interventionen, die das Sprechen in Gewissheiten herausfordern. Insbesondere die Trennlinie zwischen Fiktion und Dokumentarischem wird dabei undeutlich. Denn wuchern Fiktionen nicht in allen Bildern? Sind Recherchen nicht ein Fahnden nach sich überlappenden Realitäten? Im Gespräch mit Brigitta Kuster gehen Merle Kröger und Philip Scheffner diesen und weiteren Fragen nach. Kooperation mit der dfi – Dokumentarfilminitiative im Filmbüro NW

Protokoll

„Das Herstellen von Bildern wird unwichtiger. Es sind schon unendlich viele da, umso wichtiger wird ihre Befragung.“ Philip Scheffner

Erst Pong Film, jetzt Professor. Seit einem Monat lehrt Philip Scheffner „dokumentarische Praxen“ an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Sein Auftritt in Duisburg trug Züge einer Antrittsvorlesung, in der er sein Programm vorstellte. Parameter einer dokumentarischen Agenda, die er – in enger Zusammenarbeit mit Merle Kröger – seit über 20 Jahren verfolgt: Recherche als essenzieller Teil des Filmprozesses, permanente Selbstbefragung, Überprüfung der Autorenposition, Drehen auf Augenhöhe mit den Protagonist:innen.

Scheffner war nie auf einer Filmhochschule gewesen und kommt aus der Videokunstszene. Kröger schreibt Bücher. Gemeinsam und mit anderen gründeten sie 2001 Pong Film in Berlin, in der Eigendefinition eine „Plattform für Text, Ton und alles was dazwischenliegt“ – ein Kollektiv, Think Tank und Produktionsbüro. Hier muss jede Idee durch eine diskursive Jury. „Wir sind die ganze Zeit in einer Diskussion“, sagt Scheffner. „Es geht darum zu schauen, ob und wie eine Idee überleben kann, die nicht vom Kollektiv weggefragt wird.“ Kröger ergänzt: „Wir reden so lange, bis nur noch eine Form möglich ist. Dann treten wir zurück und fangen nochmal von vorne an.“ Eine solche Idee muss nicht zwangsläufig zu einem Film führen. Aus ihr kann auch ein Buch werden. Oder beides – wie im Fall von „Havarie“.

In „Havarie“ – 2015 als Buch und 2016 als Film erschienen – kondensiert sich die dokumentarische Praxis des Duos und ihr multimediales Arbeiten. Ausgangspunkt war ein Netzfund auf YouTube, ein dreieinhalb Minuten langer Clip über ein Boot mit Geflüchteten, das im Mittelmeer havariert ist. Erst ein Kameraschwenk nach rund der Hälfte der Laufzeit zeigt die Position des Filmenden: Er befindet sich an Bord eines Kreuzfahrschiffes, es ist ein Tourist aus Nordirland, wie sich später herausstellt. Philip Scheffner wird ihn aufsuchen und interviewen.

„Wir begegnen den Menschen zunächst nur mit Zettel und Stift, erst im zweiten Schritt kommen wir mit der Kamera.“ Neben Terry Diamond aus Belfast drehten sie u.a. mit dem Kapitän des Kreuzschiffes und mit Geflüchteten in Frankreich und Algerien. Doch mit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ hatten Fluchtbilder Konjunktur. Flüchtende und Geflüchtete waren zum Medienthema geworden, überall wurden plötzlich „Menschengeschichten“ erzählt. „Da trafen wir die Entscheidung: Wir lassen es.“ Das Drehmaterial wurde zur Soundcollage umgewidmet, die unter den nun auf 90 Minuten gestretchten YouTube-Clip gelegt wurde. Das entspricht ziemlich genau einem Filmbild pro Sekunde.

Für Merle Kröger hatte die radikale Neuknzeption durchweg positive Effekte: „Wir konnten das Meer dadurch als Freiraum der Begegnung aufmachen, statt es nur als Grenze zu definieren.“ Philip Scheffner ergänzt: „Diese Begegnungen, die wir im Ton schaffen, wären durch politische Setzungen nicht möglich. Sie sind Utopien der Begegnung.“ Die Ultrazeitlupe auf der Bildebene wirft die Betrachter:innen auf sich zurück und ermöglicht ihnen einen neuen, noch nicht medial überstrapazierten Blick auf das Thema. „Es passiert wahnsinnig viel in der eigenen Vorstellung“, so Kröger. „Neben der bedrohlichen Ereigniszeit gibt es noch eine andere Zeit: die der Sounds und Geschichten aus dem Off.“

Wie im „Kristallbild“ von Gilles Deleuze seien das aktuelle und virtuelle Bild miteinander verbunden. „Der Kegel der Erinnerung ragt tief in die Gegenwart hinein.“

Während der Film sich im Schnittprozess befand, schrieb und veröffentlichte Merle Kröger ihre literarische Version des Stoffes. 2016 erhielt sie für „Havarie“ den Deutschen Krimipreis – keine zwangsläufige Wahl, denn Kröger bespielt das Genre, wie sie selbst sagt, „nur am Rande“. Normalerweise würden in Kriminalromanen die Verhältnisse bestätigt. „Es gibt einen Riss, dann wird ermittelt und der Riss schließt sich. Mein Ansatz ist anders. Ich lasse den Riss offen und sage: Lass uns da mal reingucken.“ Ihr Buch handelt von einem „strukturellen Verbrechen“ (Scheffner), die Figuren sind nicht so sehr von Psychologie geprägt. Kröger: „Mich interessierte nicht die Backstory der Protagonist:innen, sondern die Backstory der Verhältnisse.“

Bei filmischen Figuren liegen die Dinge anders. Hier treffen in der Recherche und im Dreh die Lebensverhältnisse von Autor:innen und Protagonist:innen aufeinander. „Aus Respekt vor den Personen, mit denen ich drehe, muss ich mein egoistisches Filmemacher-Interesse formulieren“, sagt Philip Scheffner. „Wenn mein Gegenüber versteht, was mein Interesse ist, startet ein Aushandlungsprozess, der immer wieder neu justiert wird.“ Die Zeiten, in denen Dokumentarist:innen Funktionär:innen ihrer Figuren seien, um ihnen Sicht- und Hörbarkeit zu verschaffen, sind laut Scheffner längst vorbei. „Die Leute haben ihre eigenen Kanäle, ihre eigene Selbstmedialität. Da ist unsere helfende Hand nicht mehr gefragt.“

Mit „Europe“ feiert Scheffners „erster Spielfilm“ Premiere auf der nächsten Berlinale. Die Kategorisierung stammt vom Verleih, Scheffner mag sie nicht besonders. Er denkt in Verfahren, nicht in Genres. Die Verhältnisse in „Europe“ sind real, die Figuren Fiktion. Der Protagonistin wird die Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung verweigert. Sie wird zu einer fiktiven Person, da und doch auch nicht. „Ihr Leben wird unfreiwillig fiktionalisiert, und sie organisiert die Fiktion als Widerstand.“ Philip Scheffner nennt das Verfahren „forced fiction“ – eine durch die Wirklichkeit erzwungene Fiktion. Ein neuer Aspekt im ästhetischen Programm des Filmemachers und Filmprofessors.

 Foto: Thomas Berns
Foto: Thomas Berns