Produzenten und Filmemacher aus dem Dokumentarischen sehen eine historische Chance: Durch die richtige Verknüpfung von Erzählform und Distributionsplattform erzielen sie ungeahnte Reichweiten. Ist das ein überhitzter Hype oder eine nachhaltige Bewegung? Das hochkarätig besetzte Branchenpanel diskutiert, wie sich die Doku-Serie made in Germany weiterentwickelt, was neue und alte Player dazu beitragen und welche Fallstricke die Macher beachten sollten.
Protokoll
Zum Abschluss der Konferenz diskutiert Torsten Zarges mit vier Gästen über die „Chancen und Risiken des Trend-Formats Doku-Serie“. Das Gespräch lebt von der Varianz der Perspektiven, sprechen die Praktiker*innen doch vor dem Hintergrund ihrer aktuellen Produktionen, die jeweils unter sehr unterschiedlichen Vorzeichen unter den Umbrella-Term der Doku-Serie passen. Da die einzelnen Projekte nicht gesondert vorgestellt werden, werden Inhalte und Rahmungen für nicht eingeweihte Zuschauer*innen nur punktuell plastisch – um so bedauerlicher, da die Themen- und Problemfelder der zuvor besprochenen Cases noch einmal auf sehr interessante Weise erweitert werden. Dies liegt nicht zuletzt an Spiegel-Redakteurin Hannah Pilarczyk, die während des Gesprächs mit erfrischenden Spitzen die notwendig kritische Außenperspektive liefert und Finger in die Wunden der aufblühenden, deutschsprachigen Doku-Serien-Landschaft legt.
Jennifer Mival tritt als Vertreterin des „Gamechangers“ Netflix auf. Als Managerin bei Unscripted & Doc Series zeigt sie sich verantwortlich für die deutsche True-Crime-Serie Rohwedder. Einigkeit und Mord und Freiheit (Regie: Georg Tschurtschenthaler, Jan Peter; Produktion: Christian Beetz, 2020). Gleich zu Beginn betont Mival die wachsende Rolle des Formats der Doku-Serie bei Netflix. Gerade während der Pandemie habe die Aufmerksamkeit für Produktionen wie Tiger King: Murder, Mayhem and Madness (2020) noch einmal spürbar zugenommen. Der Erfolg der dokumentarischen Mini-Serie The Last Dance (2020) über Michael Jordan und die Chicago Bulls war womöglich auch dem Vakuum durch ausbleibende Live-Sport-Veranstaltungen geschuldet. Allerdings spiegele das aktuelle Interesse für Doku-Formate keine neuartige Prioritäten-Setzung. Der Streaming-Dienst habe schon seit längerer Zeit dokumentarische Formate forciert. Grundsätzlich herrsche derzeit eine neue Offenheit, einerseits für multiperspektivisches, dokumentarisches Erzählen und andererseits für die Ansprache eines diverseren, insbesondere jüngeren Zielpublikums mit dokumentarischen Inhalten. Auf Nachfrage von Moderator Zarges dementiert sie, dass Netflix bei der Auswahl der Inhalte vor allem auf Marktanalysen setze. An erster Stelle stünden „starke Geschichten und Charaktere“.
Spiegel-Redakteurin Hannah Pilarczyk hat für die Netflix-Produktion Rohwedder ein Lob mit einer „vergifteten Note“ parat. Die multiperspektivische Geschichte um einen ungeklärten Mord sei ein „schönes Konzept“, sie präsentiere materialreich wichtige Zeitzeug*innen und Perspektiven auf die deutsche Geschichte um 1990/91. Gleichzeitig sei das Konzept jedoch ein „Trojanisches Pferd“. Denn das Genre der True-Crime-Serie sei in Wahrheit ein Deckmantel, um sonst schwer platzierbare Inhalte bei Netflix einzuschleusen. Ein „Etikettenschwindel“ sei dies deswegen, weil das Material eigentlich kein Serien-Potenzial besitze. Es fehle sowohl ein*e starke Protagonist*in, als auch ein Spannungsbogen, der trägt.
Mival entgiftet in ihrer Antwort das Lob geschickt, in dem sie das von Pilarczyk Kritisierte zur Qualität erklärt. Trojanische Pferde seien in diesem Sinne notwendig und richtig, wenn es damit gelänge, komplexe Geschichten zu vermitteln. Wenn dadurch junge Menschen zum Zuschauen bewegt werden, hätte sie mit dem vorgeworfenen Etikettenschwindel kein Problem.
Eva Müller, Projektleiterin von Docupy, einer Kooperation von ARD, WDR sowie der Produktionsfirma Bild- und Tonfabrik (Btf) springt Mival bei. Darüber nachzudenken, wie man mit politischen Stoffen unterhalten könne, sei ihr persönlich sehr wichtig. Dabei sei es überhaupt nicht verwerflich, wenn Politik oder Geschichte Spaß mache. Gerade die Archivstrecken in Rohwedder seien „herausragend“, und zwar nicht allein wegen der Neuheit des Archivmaterials, sondern weil sie beim Zusehen gespürt habe: „Bei der Montage hatte jemand Spaß!“ Die Markt-Veränderungen durch Netflix sieht sie in dieser Hinsicht als großes Innovations-Potenzial; auch und gerade für den ÖRR. Das sich verändernde Sehverhalten, das auch bei härteren Themen immer mehr „optische Opulenz“ zulasse, hätte etwa auch ihr Projekt Docupy stark beeinflusst.
Durchaus nicht selbstverständlich ist die Tatsache, dass Müller mit Docupy die öffentlich-rechtliche Vision eines dokumentarischen Fernsehens der Zukunft repräsentiert, neben der Netflix beinahe wie ein altbackenes Schlachtschiff aussieht. Docupy habe sich, so Müller, nicht nur die Behandlung der „Mega-Themen unserer Zeit“ auf die Fahnen geschrieben, sondern denke auch seine Aufführungs- und Rezeptionsformate in innovativen Superlativen. Das Konzept: Ein halbes Jahr lang wird ein gesellschaftliches Thema „deep into“ behandelt, und zwar sowohl im linearen Fernsehen als auch online. Neben drei 45-minütigen Dokumentationen, die im linearen TV ausgestrahlt werden, wird auf Facebook, Instagram, YouTube und Twitter über sechs Monate hinweg der virale Boden für das Thema bereitet. Dies habe so gut (beinahe zu gut) funktioniert, dass der Hashtag #ungleichland in breite politische Debatten eingewandert sei. Neben den neuen inhaltlichen Möglichkeiten habe sich das crossmediale Storytelling auch als Form des viralen Marketings bewährt. Die Menschen hätten über ein halbes Jahr hinweg regelrecht auf die Ausstrahlung der 45-Minüter im linearen TV gewartet. Gleichzeitig funktioniere die vertikale Erzählweise. Die Zuschauer*innen können die einzelnen Elemente unabhängig voneinander konsumieren, ohne etwas zu verpassen. Dabei stelle sich eine Art „Liveness“ ein. Denn Ungleichland sei eben keine Vergangenheits-Erzählung, sondern eine sich in der Gegenwart entwickelnde, tendenziell unabgeschlossene Präsentation aktueller und vor allem akuter Ereignisse und gesellschaftlicher Probleme. Ungleichlandstellt also die Frage danach, was „Doku-Serie“ unter gegenwärtigen medialen Bedingungen bedeuten kann, noch einmal ganz neu.
Das wurde aber auch Zeit, meint Pilarczyk. „Erschüttert“ habe sie, wie lange es das öffentlich-rechtliche Fernsehen verschlafen habe, das Dokumentarische als lebendige Form, abseits strenger Formatierungen zu entdecken. Und das, obwohl etwa die Duisburger Filmwoche doch seit Jahrzehnten die Vielseitigkeit dokumentarischen Schaffens in Deutschland unter Beweis gestellt habe. Gerade die Mediatheken hätten nun eine größere Variabilität ins Spiel gebracht. So würde allein die flexible Folgenlänge starre Formatvorgaben lösen und neue Spielflächen eröffnen.
Neue Felder bespielt auch Matin Spieker, Chefredakteur bei der auf dokumentarische Formate spezialisierten Produktionsfirma Filmreif TV. Mit der SWR Doku-Serie Bayreuther Straße (2020) über ein sogenanntes Brennpunktviertel in Ludwigshafen spricht er vor dem Hintergrund eines Digital-First-Projekts der ÖRR. Ähnlich wie Müller sieht Spieker Mut zu Unabgeschlossenheit und Work in Progress als das wichtigste Potenzial aber auch als zentrale Herausforderung für Produzent*innen von Doku-Serien. Insbesondere Auftrag- und Geldgeber*innen gilt es zu überzeugen, sich auf eine Reise mit noch unbekanntem Ziel einzulassen. Erst durch Verständnis und Risikobereitschaft für eine solche Arbeitsweise lasse sich das ganze Potenzial seriellen Erzählens entfalten, nämlich ein bestimmtes Feld als Mikrokosmos zu erforschen und zu durchdringen und daraus eine ganz eigene dokumentarische Haltung zu entwickeln. Interessanterweise spricht Spieker nicht davon, wie man sich von den Erzählweisen großer Streaming-Anbieter abgrenzen oder diese adaptieren könne. Als problematische Kontrastfolie ruft er vielmehr Formate des Privatfernsehens auf. Angesichts von unzähligen „Sozialdokus von der Stange“ sei die Frage „Wie landen wir nicht in der selben Falle?“ entscheidend, insbesondere im Umgang mit den Protagonist*innen.
Der während des Gesprächs beinahe verschwundene Dualismus von Netflix und Co. auf der einen und öffentlich-rechtlichem Rundfunk auf der anderen Seite wird gegen Ende noch einmal von Pilarczyk aufgerufen. Auf die Frage, ob sie eher eine Annährung oder eine Abgrenzung der „zwei Welten“ beobachte, beschreibt sie eine Doppelbewegung. Einerseits gäbe es eine ästhetische Annäherung. Andererseits würden sich bestimmte Sujets für die ÖRR verbieten. Dies sei vor allem dort der Fall, wo die redaktionelle Unabhängigkeit in Frage stehe. Wenn, wie im Falle Justin Websters Six Dreams (Amazon Prime, 2018), eine Dokumentation von einem spanischen Fußballverband finanziert wird oder Promi-Dokus wie Homecoming. Ein Film von Beyoncé (Netflix, 2020) oder The Last Dance (Netflix, 2020) zu nah an den Kernbotschaften der Stars operieren, sei die öffentlich-rechtliche Unabhängigkeit nicht mehr gewährleistet. Generell sei der ÖRR dabei jedoch in einer „schwierigen Situation“, weil sich viele Menschen des öffentlichen Lebens häufig lieber selbst dokumentieren, d. h. ihre Botschaften über Social Media vermitteln und sich nicht mehr auf tiefergehende Berichterstattung durch Filmemacher*innen einlassen würden.
Auch diese Kritik kontert die Verantwortliche von Netflix geschickt. Das Konzept der Unabhängigkeit sei ihr hier zu eng gedacht. Auch eine Kooperation mit Protagonist*innen könne zu einer bestimmten Art der Authentizität führen, die dann eher aus einer Innen- als einer Außenperspektive entstehe. Auch wenn redaktionelle Freiheit wichtig sei; für Netflix stehe die Vision der Filmemacher*innen an erster Stelle.
Die Abschlussfrage, welche nicht nur das Panel, sondern das gesamte Symposium beenden sollte, richtet Zarges an Pilarczyk. Ob die Popularität der Doku-Serie eine historische Chance für Doku-Filmemacher*innen darstelle? Pilarczyk bleibt ihrem kritischen Blick treu und verneint. Die klassische Dokumentarfilmszene sei in den letzten Jahren regelrecht ausgeblutet worden. Auch aufgrund unrealistischer Vorstellungen von Fernsehsendern, etwa der üblichen Forderung nach unterschiedlichen Schnittfassungen, sei die Produktion von Dokumentarfilmen heute finanziell noch schwieriger geworden. Die gestiegene Aufmerksamkeit für dokumentarische Formate habe sich also noch nicht in nachhaltige Arbeitsbedingungen übersetzt. Wer sich von den vermeintlich historischen Reichweiten und vom Glanz der Streaming-Plattformen blenden lasse, sei zu optimistisch.
oben v.l. Eva Müller, Torsten Zarges, Hannah Pilarczyk, unten v. l. Jennifer Mival, Martin Spieker