Film

Willkommen in der Schweiz
von Sabine Gisiger
CH 2017 | 83 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 41
08.11.2017

Diskussion
Podium: Sabine Gisiger
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Agnese Kušnere

Synopse

In der wohlhabenden Gemeinde Oberwil-Lieli will man 2015 lieber ein Bußgeld zahlen als zehn Asylbewerber aufnehmen. Vor dem Hintergrund stolzer Basisdemokratie und pragmatischer Einwanderungstradition kommt wohlorganisiertes Gespräch in Gang: erteiltes Wort und Widerrede, Aufrichtigkeit und Inszenierung – Kompromiss und Zynismus. 

Protokoll

In einem Zeitraum von insgesamt eineinhalb Jahren begleitet Sabine Gisiger in ihrem Film „Wilkommen in der Schweiz“ drei EinwohnerInnen der reichen Gemeinde Oberwil-Lieli, des schweizerischen Kantons Aargau, ausgehend von den Ereignissen in Zeiten der sogenannten Flüchtlingskrise. Die Migrationsbewegung auf der Balkanroute der 2010er-Jahre und die Weigerung des Aargauer Gemeindepräsidenten und SVP-Nationalratskandidaten, Andreas Glarners, zehn Geflüchtete in seinem Dorf aufzunehmen, hätten Giesiger unter anderem zu ihrem Film motiviert. Dabei sei das Dorf Oberwil-Lieli laut Werner Ružička wie ausgedacht. Eine Akkumulation von Millionären. Die Gemeinde sei somit ein Ort des versammelten Reichtums. Die Filmemacherin begründet die dennoch vorhandenen Ängste der EinwohnerInnen mit Verlustängsten der Reichen und der damit einhergehenden Vorstellung der moralischen Überlegenheit.

Gisiger machte Andreas Glaser zu einem Protagonisten ihres Filmes. Seine Bereitschaft zur Teilnahme begründet die Filmemacherin damit, dass sich Glaser gerne auftreten sehe und dankbar gewesen sei, dass ein Interesse an seinem gesamtem Weltbild bestehe. Gleichzeitig hätte sie ihm zugestanden, transparent mit seiner Darstellung umzugehen. Zwar hätte Glaser das Bild von sich nach der Sichtung des Filmes gefallen, er hätte sich aber gleichzeitig in einer Zwickmühle befunden, da der Film mithilfe der Filmförderung unterstützt wurde, Glarners Partei aber „No Billag“ befürworte, eine Initiative zur Abschaffung der Radio- und Fernsehempfangsgebühren der Schweiz. Zu der Außenwirkung des Protagonisten und seiner politischen Ansichten sagt die Filmemacherin, dass es ein verbindendes Element gebe, eine Fragestellung, die nationenübergreifend gleichermaßen aufkommen würde: Bis zu welchem Punkt soll und darf man Menschen mit rechteten Tendenzen zuhören und diesen Plattformen verschaffen?

Eine weitere Protagonistin des Filmes, Johanna Gündel, Studentin und Tochter eines lokalen Gemüsebauers, fiel der Filmemacherin während einer Gemeindeversammlung auf, während der die junge Frau aufgestanden sei und sich stark gemacht hätte für den Bau einer Unterkunft für Geflüchtete. Gemeinsam mit der „IG Solidarität“ setzt sie sich dafür ein, dass Oberwil-Lieli Flüchtlinge aufnimmt. Susanne Hochuli, die als grüne Aargauer Regierungsrätin für die Unterbringung der Asylsuchenden zuständig ist, sei von Andreas Glasner zuvor mehrfach als letzte Kuh bezeichnet worden. Daraufhin beschloss Gisiger, diese ebenso zu einem Teil ihres Filmes zu machen. Es sei demnach kein künstliches Chaos, welches sie dramaturgisch konzipiert hätte, sondern eins was sie so vorgefunden hätte.

Ein Zuschauer fragt, inwiefern die Rollenverteilung eine bewusste Setzung war, da er vorwiegend verärgerte alte Männer und sich gegen sie auflehnende Frauen wahrgenommen hätte. Die Filmemacherin beteuert die Zufälligkeit dieser Konstellation, betont aber gleichzeitig, dass sie an eine weibliche Zukunft glaube. Im Laufe des Gespräches wird noch zusätzlich die Schweizer Bundesrätin Simonetta Sammaruga als weitere tragende weibliche Rolle erwähnt, die in der Schweiz viel Kritik für ihren Einsatz für die Evakuierung von Frauen und Kindern aus Libyen erntete.

Der Film ruft in regelmäßigen Abständen geschichtliche Ereignisse der Schweiz mit Hilfe von Archivmaterial und Texttafeln ins Gedächtnis. Die Filmemacherin begründet ihre Motivation für diese dramaturgische Entscheidung mit einem Schock aus der Jugend. Die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge in der Schweiz sowie die TV-Serie „Holocaust“ aus dem Jahr 1978 hätten die Filmemacherin damals nachhaltig aufgewühlt. Die Erzählung des Vaters, dass ihre Großmutter jüdische Flüchtlinge bei sich versteckt hätte, habe sie wiederum in höchstem Maße gefreut. Gleichzeitig sei der seit über 70 Jahren bestehende Umgang mit GastarbeiterInnen, das Aufwachsen mit ihren Kindern ein weiterer gravierender Einfluss gewesen. Somit würden diese beiden Pole, die Abschottung und die Humanitäre Tradition, mitschwingen.

Ein Zuschauer fragt nach der Entscheidung für das seiner Meinung nach pessimistische Ende. Gisiger sagt zuerst, dass harmonisierende Erwartungen am Filmende suspendiert werden und das Ende vermutlich die Realität der nächsten zwei Jahre darstelle. Danach fügt sie aber hinzu, dass sie doch eine Art Happyend wiederkenne – in der Tapferkeit der Protagonistin, sich immer wieder dem Gemeinderat zu stellen. Ebenso betont sie, dass die Bereitschaft des Dorfes, nach eineinhalb Jahren doch ein paar wenige Geflüchtete aufzunehmen statt zu versuchen, mit Hilfe von Bußgeldzahlungen sich dem zu widersetzen, eine positive Entwicklung sei.

Werner Ružička fragt, ob es notwendig war, die ProtagonistInnen außerhalb der Interviewsituationen zu sehen. Beim Radfahren oder Reiten. Seien das nicht eine Art Add-ons, Handwerkskleinigkeiten einer Fernsehdramaturgie? Die Filmemacherin hätte den Film in fünf Akte gegliedert, davon hätte sie den dritten Akt für sich als Reality Check definiert. In diesem hätte sie die ProtagonistInnen in ihre privaten Räume begleiten wollen. In ihr Haus, nach Griechenland, an den Hof. Es sei ein filmisches Mittel, dem sie sich bediene. Eine Inszenierung, um das Bild der ProtagonistInnen zu vervollständigen.

Ein Zuschauer sei irritiert gewesen von dem vielen Lachen. Er fragt ob die Thematik von dem Lachen profitiere, da ihm bei den „Rassenunterschieden“, die im Film angeklungen seien, das Lachen im Halse stecken geblieben wäre. Werner Ružička schreibt dem Lachen eine entlarvende Funktion zu. Auch die Filmemacherin erkennt ein Durchschauen des Protagonisten, verankert im Lachen der ZuschauerInnen. Werner Ružička verweist zusätzlich auf Gisigers Einsatz der Distanzmontage, die ein Lachen provoziere. Johanna Bündels Aussage im Film, dass vor allem der Umgang mit Sprache und Repetition gefährlich sei, stehe mit der Verwendung des Euphemismus „Pavillon“ für das Wort „Baracke“ während der Zeit der Zuwanderung von Gastarbeiter in der Schweiz.

Zur Inszenierung der Geflüchteten sagt Gisiger abschließend, dass es ihr wichtig war, ihnen eine Stimme zu geben, aber ihr Hauptanliegen im Rahmen dieses Filmes darin bestünde, über sich selbst, über die Schweizer zu sprechen. Der Film sei ein Plädoyer für Vielstimmigkeit, der mehrfach zu sehende Chor eine optimierte Version dieser. Das Unterbrechen der Handlung durch ihn sei eine Art Seelenreinigung.

Gisiger schließt das Gespräch ab mit einem Zitat aus dem Film, indem sie für eine Untergrenze von Geflüchteten plädiert.