Synopse
Die Suche nach Geborgenheit als Heimatsuche: Drei Generationen spüren Eindrücken der Fremde nach, verfolgen sie zurück zu Erfahrungen der Migration und entwerfen Szenarien künftiger Vertrautheit. Die Familie als Regelwerk: In Handgriffen und Sprechweisen entfalten sich Regungen eingeübter Anpassung und neuer Sitten.
Protokoll
Das Publikum findet sich im Diskussionsraum zusammen und Henrike Meyer beginnt das Gespräch mit einem Verweis auf vorherige Arbeiten der Filmemacherin, die sich auch mit dem Thema „Familie“ beschäftigten. In dieser, ihrer Masterarbeit, filmt Irina Heckmann Abläufe, Bewegungen und Interviews dreier Generationen ihrer Familie. Vorerst sollte ihr Abschlussfilm anders aussehen, teilt die Filmemacherin mit. Sie habe ein Jahr lang von außen in Hotelfenster gefilmt, bis sich herausstellte, dass dies verboten ist. So griff sie auf ihre Familie zurück, dort hatte sie sowieso schon zwischendurch gedreht.
Die Moderatorin fügt hinzu, dass auch sie ihren Abschlussfilm mit ihrer Familie gedreht habe und möchte von der Regisseurin wissen, wie sie mit Nähe und Distanz in dieser Arbeit mit der eigenen Familie umging. „Alle Familien haben Leichen im Keller“ und diese Themen zu adressieren, fiel ihr im normalen Umgang schwer. Die Interviews konnte sie somit nutzen, um Fragen zur Kindheit oder dem Wohlbefinden zu stellen. Sie verweist darauf, dass alle Familienmitglieder in ihrem Film zu Figuren werden. Dies regt Henrike Meyer dazu an, sie über ihre Herangehensweise im Voraus des Drehs zu fragen. Im Abspann benutze sie den Credit „Buch“ – also gab es ein Drehbuch? Irina Heckmann habe schnell erfasst, dass ihr Beobachtungen von Abläufen allein nicht genügen werden, deshalb habe sie sich im Voraus überlegt, Interviews zu bestimmten Themen zu führen.
Für die Moderatorin rufen Beobachtungen (z. B. von den Resten der Kartoffelpelle im Zeitungspapier) eigene Erinnerungsketten hervor, die meisten in nahen Einstellungen eingefangen – war das so geplant? Irina Heckmann bezeichnet sich daraufhin als keine gute Kamerafrau, obwohl sie die Eigenschaften hätte, die man dazu brauche, und fügt hinzu, dass sie ihrer Intuition folge, sehr gern nah dran ist an ihren Figuren. Der Oma habe sie allerdings mehr Platz im Bild gegeben, ihr war es wichtig, die Körperhaltung beobachten zu können. Vielleicht sei dies einfach eine Einstellung des Respekts, schlägt die Moderatorin vor.
Da es manchmal Schwierigkeiten mit der Ausarbeitung einzelner Figuren gab, kam der Regisseurin Hilfe im Schnitt gelegen. Ihre Mutter empfand sie in einer früheren Version als frustriert, deshalb drehten die beiden zusätzliche Szenen außerhalb des Hauses.
Als auffallend empfinde die Moderatorin Irina Heckmanns Fragen zum Lebensmotto ihrer Familienmitglieder – was interessiere sie an diesem Thema? Sie habe die unterschiedlichen Einstellungen untersuchen wollen und sei fasziniert davon, wie man in einer Familie doch so anders sein kann. Da stünde zum Beispiel ihr Bruder für eine Generation, die unter großem Druck sei, immer etwas erreichen zu wollen, wohingegen die Selbstfindung für ihre Schwester am wichtigsten sei. Henrike Meyer findet, dass die Regisseurin sich wenig im Film zeige. Das sei ja auch schwierig wenn man nebenbei die Kamera hält, entgegnet die Filmemacherin. Außerdem sei das so ein moderner Trend, sich als Filmemacher ins Bild zu stellen. Durch den Schnitt, die Kamera und ihre Fragen sei sie genug „im“ Film.
Für eine Zuschauerin wirkte die Szene der sich umziehenden Oma als ausgestellt. Im Vergleich zu den anderen Figuren, habe sie hier die Unsicherheit der alten Frau gespürt. Die Regisseurin entgegnet, dieser Eindruck sei nicht ganz richtig, denn die Oma sei die Herrin im Hause, diejenige, die das Sagen hat. Ihre Oma habe diese Stelle nicht gestört. Henrike Meyer findet, dass man alte Haut nicht oft in Filmen sieht, und Irina Heckmann fügt hinzu, „wir werden alle alt“. „Stichwort Alter“, ruft Werner Ružička und möchte wissen, wie sich der Hintergrund der Migrationsgeschichte auf das Konzept der Filmemacherin ausgewirkt hat. Die Frage zur Erzählweise von Hintergründen der Russlanddeutschen war ihr bewusst, deshalb fügte sie geschichtliche Informationen dem Beginn des Films bei. Mit dem Thema „Heimat“ hatte die Filmemacherin ihre Probleme, für sie sei es ein schwieriger Begriff und ein sehr komplexes Thema. Für ihre Mutter ist Heimat dort, wo ihre Kinder sind. Irina Heckmann sagt, sie selbst sei heimatlos.
Henrike Meyer möchte wissen, wie die Themen „Sozialismus“ und „Sowjetunion“ bearbeitet wurden. Die Filmemacherin beginnt darüber zu sprechen, dass die Gemeinschaft wichtiger war als das Individuum, doch verliert sie ihren Faden. Die Moderatorin versucht zu helfen und kommt zurück auf das Thema Arbeit, als die Regisseurin sich erinnert und fortsetzt: Man sei Teil einer Maschinerie in kapitalistischen Ländern, in denen Talente nicht unterstützt werden. In der Sowjetunion könnten Filme dieser Art zwar gemacht werden, würden allerdings nicht veröffentlich. Ergänzend beobachte sie bei älteren Generationen ein größeres Gemeinschaftsgefühl, Menschen teilten eine ähnliche Wertevorstellung, wohingegen die Jugend heutzutage keine gemeinsame Idee von der Welt hätte.
Eine Stimme aus dem Publikum möchte eine Frage zum dokumentarischen Ethos der Filmemacherin stellen. Sie selbst inszeniere sich im Film als Fotografin, die Fotos ihrer Oma mit Photoshop retuschiere – dies stehe im Kontrast zu den „aggressiv hässlichen“ Bildern des Films. Der Film wolle also nichts kaschieren, oder worum ginge es? Irina Heckmann entgegnet, ihr sei es wichtig gewesen, ihre Oma schön zu machen und dies wollte sie demonstrieren. Zu dem Look ließe sich sagen, dass sie leider keine bessere Kamera hatte und sich für die Zukunft wünsche, mehr Geld in Objektive investieren zu können.
Ein Zuschauer möchte seine Gegenposition äußern, er finde den Film „aggressiv ehrlich“ und schätze besonders, dass die Filmemacherin Parallelen zwischen unterschiedlichen Perspektiven herstellt, ohne dabei zu werten. Sie erschaffe einen ehrlichen Raum für ein universelles Thema, werfe Fragen zu Familienkonzepten auf. Auch ein weiterer Zuhörer sieht den Film als Plädoyer für die Beeinflussung eines Individuums durch die Gesellschaft, sichtbar an den aufgezeigten Generationen. Werner Ružička hingegen hat ein Problem mit dem Begriff des Individuums in diesem Kontext. Er merkt an, dass die Filmemacherin davon sprach, ihrer Mutter gerecht werden zu wollen und empfindet dies als einen schwierigen Entscheidungsmodus. Die Regisseurin erklärt, sie habe die Frustration ihrer Mutter und der anderer Frauen in ähnlichen Situationen enthüllen wollen.
Es sei ein facettenreicher Film, beginnt ein weiterer Zuschauer. Es wird gefragt, welche Gefühle Irina Heckmann dem Film gegenüber hat und welche Lesart sie sich für das Publikum wünsche. In der heutigen Projektion empfand die Regisseurin Stolz auf den Mut der Figuren, obwohl ihr die technischen Probleme und Unreinheiten sehr bewusst wurden – doch auch dies gehe vielleicht irgendwann vorbei, entgegnet sie lächelnd. Ein Zuschauer kommt auf die Figur des Vaters zu sprechen, die ihm sehr nebensächlich vorkam. Die Frauen seien eben präsenter in ihrem Familienleben, außerdem habe sie sich dafür entscheiden müssen, einigen Figuren mehr Platz zu geben als anderen.
Bevor die Diskussion beendet wird, brennt bei der Moderatorin noch die Frage zum Stinkefinger, den der Bruder der Filmemacherin in der letzten Szene zeigt. Beim Dreh sei Irina Heckmann klar gewesen, dass diese Geste den Film beenden muss – sie zeige die Leichtigkeit in der Beziehung zwischen Bruder und Schwester, ein Kommentar der viele der Anwesenden zum Lachen bringt. Abschließend bedeute der Stinkefinger für sie: „Wir sind immer noch zusammen, wir sind eine Familie!“
Henrike Meyer, Irina Heckmann v.l. © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald