Film

Ricardo Bär
von Nele Wohlatz, Gerardo Naumann
AR 2013 | 92 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 37
08.11.2013

Diskussion
Podium: Nele Wohlatz, Gerardo Naumann
Moderation: Till Brockmann
Protokoll: Christian Koch

Synopse

Ricardo lebt in einem Dorf ehemaliger deutscher Migranten in Argentinien. Er arbeitet gern im ländlichen Betrieb seiner Familie, will aber vielleicht Pastor werden. Fragen sind: Kann der Film gedreht werden? Wird Ricardo sich selbst spielen? Daneben lädt Ricardo sein Handy an der Bushaltestelle, betet, nimmt am Krippenspiel teil. 

Protokoll

Da fuhr der HERR hernieder, dass er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen und dies ist der Anfang ihres Tuns; nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. Wohlauf, lasst uns herniederfahren und dort ihre Sprache verwirren, dass keiner des andern Sprache verstehe! So zerstreute sie der HERR von dort in alle Länder, dass sie aufhören mussten, die Stadt zu bauen. Daher heißt ihr Name Babel, weil der HERR daselbst verwirrt hat aller Länder Sprache und sie von dort zerstreut hat in alle Länder.

(1.Mose 11, 4-7)

Die Sprache ist die Heimat des Menschen. In ihr versichert er sich seiner selbst, seiner Existenz, zugleich aber entfremdet sie ihn von sich selbst. Die Sprache ist so auch auf den Anderen gerichtet, der sich in der Sprache offenbart und zugleich verbirgt. Das Gleichnis von der babylonischen Sprachverwirrung ist aus dieser Perspektive eine Erzählung vom Einzug des Fremden in die Welt. Gott fürchtet die Macht, die eine durch eine Sprache geeinte Menschheit in ihren Handlungen erlangen könnte und beschließt, die Menschen einander zu entfremden. Die Sprache, bzw. die Schrift und das Verhältnis des Menschen zu ihr steht im Zentrum der monotheistischer Religionen. Schon die Schöpfungsgeschichte beschreibt die Entstehung der Welt als einen Sprechakt: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.“ (1. Mose 1, 3) Wenn also ein Film sich der Ausübung einer dieser Tradition verpflichteten Religion widmet, ist das Verhältnis des Menschen zur Sprache, der Schrift und der „Vermittlung“ von Welt durch Sprache angesprochen.

Die Frage stellt sich, inwieweit dieser Zusammenhang die Filmemacher interessiert hat, als sie sich entschieden, aus der eher zufälligen Begegnung mit einer Gemeinde vornehmlich deutschstämmiger Baptisten in der argentinischen Provinz einen Film über den „Glauben“ (Naumann) zu machen. Die Idee war, die eigene kürzlich erfolgte Migration nach Argentinien der Filmemacherin Nele Wohlatz mit der älteren Geschichte der deutschstämmigen Landbevölkerung an der brasilianisch-argentinischen Grenze abzugleichen. In der Region wird neben argentinischem Spanisch vor allem Portugol, ein wenig definiertes und in zahllosen Varianten existierendes Gemisch aus Portugiesisch und Spanisch gesprochen, die Älteren sprechen aber noch ein etwas archaisch klingendes Deutsch. Die Sprachverwirrung und die Zerstreuung der Menschen in alle Welt hallen also im Film durchaus nach.

Die Religiosität bzw. Religionsausübung der Baptistengemeinde „Aurora“ gerät durch die Konzentration der Filmemacher auf den jungen Theologiestudenten und Bauernsohn Ricardo ins Zentrum des Films. Die erste Begegnung mit der Gemeinde fand während der Aufführung eines Krippenspiels statt, der die Filmemacher zufällig beiwohnten, als sie bei einem Stopp an einer Tankstelle auf die gegenüberliegende Baptistenkirche aufmerksam wurden. Die eigenwillige, an Episches Theater erinnernde Dramaturgie des Krippenspiels, bei dem stumme und puppenartig agierende Schauspieler den Text der Bibel illustrieren (manchmal mit stummen Lippenbewegungen mitsprechen), hat Wohlatz und Naumann dazu inspiriert, einen Film in ähnlicher Manier zu gestalten. Es hatte sich ergeben, dass Ricardo, der zu jener Zeit im örtlichen baptistischen Predigerseminar eine Ausbildung zum Pastor absolvierte, sich am meisten für ihre Filmpläne interessierte, während die Gemeinde ihnen eher skeptisch gegenüber stand. So entschieden sie sich, ihn zu fragen, ob er an ihrem Projekt mitwirken wollte. Seine anfängliche Ablehnung, seine Entscheidung doch mitzumachen, weil die Filmemacher für ihn als Gegenleistung ein Stipendium in der fernen Hauptstadt Buenos Aires organisiert hatten, seine schlussendliche Zurückweisung des Stipendiums – all das wird zum Gegenstand des Films, der die entsprechenden Ereignisse aus Ricardos Lebens reinszeniert, sich damit in die Tradition des „Reenactments“ sowie der reflexiven, die Produktionsbedingungen offenlegenden argentinischen Filmtradition einreiht.

Jedoch scheint es, als sei diese dramaturgische Konstruktion beim Publikum nicht angekommen. So mag der von manchen Stimmen im Publikum geäußerte Verdacht aufgekommen sein, die Filmemacher hätten die Gutgläubigkeit des Protagonisten ausgenutzt und so gegen die ethischen Grundsätze des Dokumentarfilms verstoßen. Dagegen ist der Film auch aus Sicht des Festivalleiters in Schutz zu nehmen, und so verwahrt sich Ružička gegen den Verdacht, die Filmemacher hätten ein exotistisches Spiel gespielt. Die Filmemacher betonen auch, dass Ricardo nicht nur eingewilligt habe, bei dem Film mitzumachen, sondern ihnen auch geholfen habe, die anfängliche Ablehnung der Gemeinde (die zu Anfang zu einem Rausschmiss der Filmemacher geführt hatte) zu überwinden. Das Stipendium sei mehr ein mit Ricardo genau abgestimmter Versuch gewesen, der Gemeinde einen Grund für die Zustimmung zum Film zu liefern, als eine echte Vorteilsnahme. Allerdings habe erst der „Deal“, dass Gerardo bei der morgendlichen Feldarbeit mittun musste, und im Gegenzug dann nachmittags gefilmt werden konnte, das Eis gebrochen.

Dennoch scheint der Film einigen Anlass zu Missverständnissen zu liefern. Zahlreiche Nachfragen lassen den Protokollanten vermuten, dass das Publikum keinen Zugang zum Verhältnis von Filmcrew und Protagonisten gefunden hat. Die Diskussionen über Glauben und Zweifel, die für Naumann zentrale Begriffe des Films sind, deuten zudem darauf, dass es den Autoren nicht gelungen ist, ihrer Idee, „den Glauben im Film zu zeigen, um den Glauben an den Film zu thematisieren“ (Naumann), Nachdruck zu verleihen. Auch wenn Peter Ott diese Absicht erkannt hat und mit Salman Rushdies Erkenntnis, der Feind des Glaubens sei nicht der Atheismus, sondern der Zweifel, unterfüttert – die Mehrheit des Publikums zeigt sich befremdet von der religiösen Praxis, eine Stimme findet den Umgang mit den „archaischen“ Ritualen und patriarchalen Strukturen geradezu „liebevoll“ und deshalb befremdlich.

Die Filmemacher verteidigen ihren Ansatz, man könne eben keinen Film über jemanden machen, den man nicht respektiere. Daneben habe die Perspektive auf die Gemeinde auch mit den besonderen argentinischen Verhältnissen zu tun. Argentinien sei ein Land mit einem extremen Gefälle zwischen Hauptstadt und Land, alles konzentriere sich auf Buenos Aires, auch die Filmbranche, und von der Existenz der Baptistengemeinde wisse dort fast niemand. Ebenso sei der Abstand zwischen arm und reich sehr viel größer als in Europa, so dass der nicht anklagende, sondern „liebevolle“ Blick auf diese Menschen auch ein politisches Statement sei.

Worin aber liegt das Verständigungsproblem zwischen Publikum und Filmemachern begründet? Es erscheint dem Protokollanten, dass es bereits ein Problem in der Anlage des Films ist. Der Grund des religiösen Zweifels, der sich auch in Ricardos Predigtübungen äußert, die ja Versuche in hermeneutischer Textauslegung sind, ist die Sprache selbst, die in ihr angelegte Untrennbarkeit von Anund Abwesenheit von Welt. Dass das Publikum den Eindruck gewinnt, der Zweifel rühre eher von dem Verhältnis von modernem Großstadtleben und traditionellem Gemeindealltag, ist aus Sicht des Protokollanten ein Kurzschluss. Dieser passiert deshalb, weil der Film sich zu sehr darauf verlässt, dass sein Anliegen, dem Verhältnis von Glauben und Zweifel einen filmischen Bildraum (so ähnlich formuliert es Naumann) zu geben, in den Reenactments evident wird. Diese sollten die Distanz zwischen konkreter Religionsausübung und dem filmischen Blick sicherstellen, die wiederum einen „Glauben an den Film“ ermögliche.

Aber da der Film den eigentlichen Grund der Religiosität der Gemeindeglieder nicht thematisiert, entsteht zu leicht der Eindruck einer naiven Gläubigkeit. Auch Naumann und Wohlatz scheinen zu glauben, dass das Nachspielen der Weihnachtsgeschichte für die Gemeindeglieder das Nachspielen einer realen Historie sei. Dieses Nachspielen habe der Film dann mit Ricardos Leben aufnehmen wollen. Nur, so könnte man entgegnen, beobachtet man als Zuschauer dann nicht einen Menschen beim Zweifeln, sondern bei der Auseinandersetzung mit der Schrift. Ricardos Bibeltext ist übersät von Anmerkungen und Anstreichungen. Es scheint, so sieht es jedenfalls der Protokollant, den Filmemachern nicht klar gewesen zu sein, woher der Zweifel Ricardos rührt: nämlich aus der Verwirrung über die Sprache. Keineswegs ist das ein „weltlicher“ Zweifel, der sich aus der Konfrontation der Religion mit der modernen Welt ergibt. Es gibt bei Ricardo keinen Vertrauensverlust in die „Realität“ der Bibel, der von der drohenden Großstadt und den modernen Kommunikationsmedien herrühren und dem er mit dem Rückzug in seine ländliche Welt begegnen würde. Mit den Errungenschaften der Moderne, dem Internet, der mobilen Kommunikation, dem Automobil geht er ganz selbstverständlich um. Auch Nacktheit und freier Umgang mit dem anderen Geschlecht ist für ihn kein Problem. Vielmehr ist der religiöse Zweifel in den monotheistischen Religionen einer an der Wahrheit des Worts, den das Christentum mit der Erfindung einer „neuen Sprache“ zu überwinden trachtet. Um mit dem in Ricardos Predigten viel zitierten Dietrich Bonhoeffer zu sprechen, der sie in den „Gedanken zum Tauftag des Kindes Dietrich Wilhelm Rüdiger Bethges“ so ankündigt:

„(…) eine neue Sprache (…), vielleicht ganz unreligiös, aber befreiend und erlösend, wie die Sprache Jesu, dass sich die Menschen über sie entsetzen und doch von ihrer Gewalt überwunden werden; die Sprache einer neuen Gerechtigkeit und Wahrheit, die Sprache, die den Frieden Gottes mit den Menschen und das Nahen seines Reiches verkündigt.“

(DBW 8, 436)

Den Nichtreligiösen, die im Publikum wohl die Mehrheit stellten, muss diese Sprache wohl notwendig unverständlich und exotisch erscheinen.