Synopse
Eine Familie, zwei Kapitel. Suche nach Worten zwischen zwei Welten. Die Filmemacherin reist zu ihren kurdischen Wurzeln und kehrt zurück in die familiäre Fremde. Einst waren sie gegangen und haben die Sprache zurückgelassen. Zwischen Alltag und Gepflogenheiten. Ein Fladen Brot für jeden.
Protokoll
Serpil Turhan geht in ihrer anekdotischen Dokumentation Dilim Dönmüyor immer nach Hause. Sie legt durch eindringliche Dialoge mit ihren Familienmitgliedern ein(e) Geschichte der Verlustund Aneignungserfahrungen frei und umspielt die Themen Heimat und Sprache mit einem entwaffnenden Sinn für Alltäglichkeiten. Widerpart dieser fragmentarischen Form ist das Portrait eines seltsamen Determinismus, der die Erzählungen begleitet, und eine gewisse Beklommenheit vermittelt. Die Balance und die Widersprüche zwischen diesen Ebenen lassen den Film ehrlich, mithin trotz seiner subjektiven Sichtweise authentisch wirken. So sehen wir einerseits die Großmutter der Regisseurin wie sie von ihrer Zwangsheirat mit erst 13 Jahren und den Entbehrungen ihrer Jugend berichtet. Andererseits zeigt Turhan die gleiche Frau kurz darauf beim fröhlichen Scherzen mit ihrer Schwester. Einen Einblick, der vielleicht symptomatisch für den ganzen Film ist, gewährt Turhan den Zuschauern und sich selbst in einer Szene, die in dem Heimatdorf ihrer Großeltern spielt: Die bereits erwähnten betagten Frauen unterhalten sich in dem Wissen darum, dass die Regisseurin diese Sprache nicht spricht, auf Kurdisch. Nur um dann von Turhan zu erfahren, dass sie alle ihre Dialoge übersetzen wird, woraufhin ihre Großmutter und Großtante etwas Zurückhaltung vereinbaren.
Szenen wie diese bezeugen, dass die Regisseurin stets diejenige ist, die den Dialog nicht nur initiiert, sondern erst ermöglicht. Sie verknüpft ihre eigene Reise nach Hause mit der Selbstreflexion ihrer Protagonisten und lässt dergestalt ihre Zuschauer an dem Dialog teilhaben. Michael Sennhauser erinnert dieses Vorgehen an Vaters Garten von Peter Liechti. Einen entscheidenden Unterschied sieht er jedoch darin, dass Turhan so sehr als Drehscheibe der Handlung agiere, dass ihre Verwandten kaum miteinander in Interaktion zu treten scheinen. Editorin Eva Hartmann erklärt, dass die Gespräche, die die Regisseurin mit ihren Protagonisten geführt habe, der Ausgangspunkt ihrer Montagearbeit gewesen sei. Dabei habe sich in einem organischen Auswahlprozess ergeben, dass eher die szenischen als die thematisch klar formulierten Gespräche ihren Weg in Dilim Dönmüyor geschafft hätten. Serpil Turhan ergänzt, ihr sei es wichtig gewesen, für die Dialoge einen besonderen Raum zu schaffen. Werner Ružička spricht in diesem Zusammenhang von verschiedenen „Körperweisen zu reden“, welche die Filmemacher in ihrer Organisation der Gesprächssituationen sehr fein zu illustrieren wissen.
Gleichfalls kommt die konkrete Umgebung der Reden in subtilen Allegorien in den Blick. Während der Großvater auf seine Besitztümer in den Hügel des fernen Küçük Otlukbeli deutet und damit die Begriffe Heimat und Eigentum einander annähert, führen Turhans Eltern ihre Tochter in der Berliner Heimat ebenfalls beim Früchtesammeln zur Spitze einer kleinen Anhöhe. Sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, sowohl bei den Großeltern als auch bei den Eltern ist es nicht das zurückliegende Verlassen einer Heimat, sondern eine permanente Entwurzelung, die die Regisseurin in alltäglichen Gebärden nachspürt. In den verschiedensten Spielarten nimmt sie die Metapher von der Heimaterde der darin sprießenden Triebe wörtlich: Der Großvater, der gerne wieder in sein Geburtsdorf zurückkommt pflückt ständig Blumen, während die Großmutter, die dort ob ihrer schrecklichen Erinnerungen nicht einmal begraben werden will, die Regisseurin in langen Fußmärschen zu dem Birnbaum führt, der eine Heimat von einer anderen trennt. Nach dem entscheidenden Schnitt, der den Film von Küçük Otlukbeli nach Berlin bringt, sieht man schließlich die Mutter Turhans auf ihrem Balkon neue Pflanzen einbringen.
Deren Rolle, berichtet Serpil Turhan, habe sich während der Arbeit an Dilim Dönmüyor gewandelt. Sei zunächst der Plan gewesen, mit ihrer Mutter in die Türkei zu reisen, hätten diese Reise stets verschiedene Unwegbarkeiten verhindert – die Mutter spricht wahlweise von Bestimmung oder Schicksal. So habe sich die im Nachhinein wertvolle – und selbstredend allein mit digitaler Aufnahmetechnik mögliche – Erfahrung ergeben, alleine eine filmische Reise in den Osten der Türkei zu unternehmen. Turhan beschreibt, wie mühsam diese Reise allerdings war. Das Erkunden der weiten Hügellandschaft mit der Kamera sei eine körperliche Herausforderung gewesen, auf die sie wenig vorbereitet gewesen sei.
Ähnlich viel Mut und Ausdauer braucht die Regisseurin, um sich einerseits der eigenen Geschichte vorbehaltslos zu nähern und sich damit andererseits selbst dem Publikum in einem gewissen Maße auszuliefern. Die Entscheidung, mit ihrem Abschlussfilm vor ein größeres Publikum zu treten, sei erst im Laufe der aufwändigen Arbeit gereift. Turhan beschreibt, sie habe stets für sich selbst das dringende Bedürfnis gehabt, dieses Projekt tatsächlich zu realisieren. Ihre Art und Weise mit dem gedrehten Rohmaterial umzugehen, gleicht einem Schreibprozess: Um die Arbeit im Schneideraum zu erleichtern, transkribiert die Regisseurin sechs Monate lang die Gespräche, wobei sie ein(e) Geschichte der Erzählungen freilegt und per Untertitel dem Bild einschreibt. So entsteht ein Familienroman, dessen Schriftlichkeit auf der Leinwand nicht stört, sondern Spur akribischer Arbeit quer über Sprachgrenzen ist.
Diese Anstrengung hat sich gelohnt. Die Entfremdung von der Heimat wird in Dilim Dönmüyor als Sprachverlust bzw. das Heimischwerden als neuerlicher Spracherwerb beschrieben. Halbsprachlichkeit und familieninterne Kommunikationsschwierigkeiten sind Chiffren einer Verlusterfahrung, die ohne beschönigende Sentimentalität oder Integrationskitsch als Alltagserfahrung beschrieben wird. Der Privatheit der Dokumentation ist es zudem geschuldet, dass der Film gerade den Verlust der kurdischen Muttersprache kaum in dem Kontext der politischen Repression thematisiert, in den er gehört. Serpil Turhan spart sich die Didaktik. Dass ihren Verwandten die kurdische Sprache mehr oder weniger ausgeprügelt wurde, stellt sie in der Diskussion deutlich heraus, bleibt in dem Film aber eher im Hintergrund. Dass in Deutschland weniger die verschiedenen persönlichen, kulturellen, sozialen und religiösen Hintergründe, sondern vor allem der „Migrationshintergrund“ von Menschen mit vergleichbaren Geschichten wahrgenommen wird, ist ebenfalls keine These, die der Film direkt formulieren müsste. Durch den Blick auf die Subtilität des scheinbar Gewöhnlichen und Privaten, fügen sich die verschiedenen Schichten der Vergangenheit vielmehr zu eindrücklichen Bildern als zu einer eindeutigen Geschichte.
Serpil Turhan © Duisburger Filmwoche, Foto: Simon Bierwald