Film

Sämtliche Wunder
von Juliane Henrich
DE 2009 | 27 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 33
03.11.2009

Diskussion
Podium: Juliane Henrich
Moderation: Werner Dütsch
Protokoll: Torsten Alisch

Synopse

Ein Haus voller unbelebter Räume – angefüllt mit Gegenständen aus vergangenen Jahrzehnten. Familienfotos, Bücher, Postkarten, unzählige Uhren. Doch die Bewohnerin des Hauses sieht diese Räume nicht mehr. Ein Film über den Alltag des Altseins. 

Protokoll

Der Film eröffnet mit etwa zwanzig Stillleben: Aufnahmen von (ehemals bewohnten) Räumen, und Gegenständen, die einmal in Gebrauch waren. Stillleben, diese alte Kunstrichtung, in der Dinge zusammengetragen werden, die nicht unbedingt zusammengehören, und die oft vom Zerfall, vom Tod und der vergehenden Zeit (in der Stille) erzählt: Auch hier geht es um eine ältere Person, gekennzeichnet von den Spuren des Alltags und mit Schwierigkeiten, ehemals vertraute Sachen zusammenzubringen. Es entsteht eine Distanz zwischen dieser Person und den „anderen“, aber auch zu den ehemals vertrauten (und von ihr bewohnten) Räumen. Stillleben. Leben in der Stille.

Eine Unzufriedenheit mit der Welt wird offenbar und Räume werden beschimpft – weil diese Welt und diese Räume „verloren gehen“. Eine „Entfremdung“, die unheilbar ist. Die „Welt“ verschwindet und die Räume verschwinden aus dem Bewusstsein dieser Person. Älterwerden. Alt werden. Dinge vergessen. Die Welt vergessen. Und nur noch schimpfen statt argumentieren zu können.

Drei Tage Dreharbeiten an einem Wochenende. Die ältere Person war geschmeichelt, dass ihr mit der Kamera so viel Beachtung gegeben wurde. Es wird klar, dass es „Großmutter“ ist. Eine Zuschauerin fragt: „Haben Sie eine Beziehung zu ihr bekommen?“, die Filmemacherin entgegnet: „Ich habe eine tiefe Beziehung zu meiner Großmutter“. Die Großmutter sagt (im Film): „Man kann bessere Sachen sagen, wenn man gute Mikrofone verwendet“. Juliane Henrich hat an diesem Wochenende auch lange Interviews gedreht, aber ihre Oma vermittelte sich darin nicht: „Bewusstes Erzählen“ ist so eine Sache, wenn das Gedächtnis nicht mehr „im normalen Sinne“ funktioniert…

Die „Entstellung“ im Gesicht der Großmutter: Eine „Francis Bacon-Stuktur“ für einen Zuschauer. Für die Filmemacherin, die die Großmutter nur so kennt, nichts „Unnormales“: Großmutter hat diese Lippen ihr Leben lang nicht versteckt, sondern ist mit ihrem Aussehen immer „offensiv“ umgegangen.

In diesem Film wird etwas sehr „Essentielles“ geschaffen, etwas Nachhaltiges (für den Zuschauer): Der Vorgang des Verlustes von „Aktualität“, das Verschwinden des Jetzt-Seins wird hier festgehalten. Uhren und die permanente Frage nach der „Zeit“ geben noch etwas Sicherheit im Tagesablauf. Ebenso wie die Nachrichtensendungen im Fernsehen, die vertraute Sachen zu festgelegten Uhrzeiten zeigen: die Inhalte wechseln (aber wiederholen sich auch). Nur das Wetter scheint sich noch zu ändern…

Ein „leiser, sanfter Horrorfilm“: Wir sehen alltägliche Dinge und alltägliche Verrichtungen, tausendmal berührt und tausendemal verrichtet, die alle nun zum Fürchten werden. Die schreckliche Normalität von älteren Leuten in großen Häusern, die sie nicht mehr wirklich bewirtschaften können: Tote Fliegen, ein Wespennest im Dachzimmer, Staub, ein bisschen Dreck, und Räume im eigenen Haus, die man nicht mehr erreichen kann (und die langsam aus dem Bewusstsein verschwinden).

Ein Mensch im Kampf um seine Souveränität: Eine Großmutter, die ihre „Rolle“ und ihre Selbständigkeit nicht aufgeben will – nur die Dinge sollten nicht zu alt, aber auch nicht zu neu sein. Ein Kampf, der noch nicht verloren ist.