Film

Moskatchka
von Annett Schütze
DE/LV 2005 | 90 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 29
01.11.2005

Diskussion
Podium: Annett Schütze
Moderation: Mark Stöhr
Protokoll: Aycha Riffi

Synopse

Die Choreographie eines Alltags in Moskatchka, einem Viertel von Riga. Ein Mann hackt Holz, Kinder spielen in Schrottautos, das Ein und Aus einer Trinkhalle. Blicke werden zu Tableaus, Straßen zum Bühnenraum. Manches verbindet sich zu Geschichten, manches bleibt für sich. „Nur auf den, der still steht, kommen die Dinge zu.“

Protokoll

Annett Schützes Film entstand im Rahmen eines dreimonatigen Workshops in Riga, unter der Leitung von Fred Kelemen. Es ist ihr erster Film und sie wollte sich von dem Ort inspirieren lassen, von der Frage, wie sich das Leben an diesem Ort organisiert: „Was könnte hier an einem Samstagnachmittag um 15.00 Uhr passieren?“ MOSKATCHKA liegt mitten in Riga. Dort leben hauptsächlich sehr arme Russen. Eine hohe Arbeitslosigkeitsrate, Obdachlosigkeit und Alkoholismus prägen das Bild des Ortes.

In diesem, aus lettischer Perspektive „Schandfleck“ suchte Annett Schütze 25 Orte aus, an denen gefilmt wurde. 12 Orte in je drei verschiedenen Einstellungen sind im Film zu sehen.

Was wird sichtbar?

Annett Schütze versteht ihre Kamera und den Blick der Kamera nicht als ‚unsichtbare(n) Kamera(blick)’ – ganz im Gegenteil: Gerade weil sie statisch ist und keine Bewegung stattfindet, ist die Kamera für den Zuschauer offensichtlich und spürbar.

In der Praxis sah es so aus, dass Schütze und ihr Kameramann einen Ort auswählten, die Kamera platzierten und sich selbst in einem Abstand von ca. drei Meter zur Kamera aufhielten. Welche Szenen sich innerhalb dieser bewussten Kadrierung ergaben, überließ die Filmemacherin dem ‚dokumentarischen Zufall’. Sie selbst nennt dies ein „naives Vertrauen in die Realität“; abwarten und beobachten.

Trotzdem lässt sich nicht ausschließen, dass Geschehnisse durch die Kamera provoziert wurden. Wie sieht es also mit der Straßenszene aus, in der ein Mann einen Obdachlosen angreift? Annett Schütze und Aleksandrs Grebnevs (Kamera) eilten nicht direkt zur Hilfe, sondern riefen die Polizei. Als dies der Mann mitbekommt, wendet er sich von dem Obdachlosen ab und geht auf die beiden zu. Er bietet sogar seine Hilfe an, für den Film etwas ‚Action’ zu bieten, wenn die beiden ihn nicht verpfeifen. Grebnevs – so hört der Zuschauer aus dem Off – empfiehlt dem Mann, er solle lieber schnell verschwinden.

In der Duisburger Diskussion forderte eine Diskutantin die moralische Verpflichtung der Filmemacher ein, an dieser Stelle eingreifen zu müssen. Dieser „moralischen Keule“ wurde begründet widersprochen, schließlich gilt es auch zu unterscheiden, zwischen dem zum Teil inszenierten Voyeurismus der TV-Spiegel-Fokus-Explosiv-Formate und einer beobachtenden Filmsituation, in der auf einmal etwas Gefährliches passiert. Wer sich selbst moralisch auf der sicheren Seite glaubt, dem ist es ein Leichtes, zu sagen, man hätte hier eingreifen sollen und dem Obdachlosen zur Hilfe eilen müssen. Einschließlich des Risikos, sich selbst in physische Gefahr zu begeben. Schütze und Grebnevs sind nicht zu ‚Helden’ geworden, sie haben, so sagt Schütze, „getan was wir tun konnten“ und die Polizei alarmiert. Schütze hat dann auch bewusst diese ‚Alltagsszene’ nicht verheimlicht und im Schnitt nicht verändert. Die Szene wurde in der Montage als eine Szene wie jede andere positioniert und reiht sich so in den Beobachtungsablauf ein, als ein Geschehnis von vielen an diesem Ort.

Das sich beim Filmzuschauer ein Unwohlsein während dieser Szene ergibt, ist verständlich und sogar wünschenswert. Und vielleicht geht es genau darum, dass der Zuschauer sich zu diesem Bild – wie zu jedem anderen Bilde auch – ‚verhält’.

Distanz(losigkeit)

Annett Schütze mag in ihrem Film keine Interviews führen. Sie „hasst Talking Heads“. Die Bilder und Töne – die nichts unbedingt Neues erzählen müssen – sollen ihre Wirkung für sich erzielen. Letztlich zeigt sie Ausschnitte, die von der Auslassung leben, und es ist möglich, dass sich Spannendes und ‚Erhellendes’ erst neben dem Kamerablick ereignen. So ergibt sich eben keine „Theater-“ oder gar „Zoo-“ Haltung für den Zuschauer – wie es ein Diskutant empfindet, sondern im Gegenteil: Nicht die Gefilmten sind im Käfig, denn sie können ja jederzeit dem Kamerablick entfliehen, sondern der Zuschauer ist gefangen und kann somit „nicht sehen, was ich sehen will“. So ist es dann auch dem Zuschauer überlassen, was er mit dem Lieblingsbild der Regisseurin anfängt: Ein Auto wird von Kindern aus dem Bild geschoben. Was bleibt ist das unscharfe Bild einer Landschaft. Wirft diese minutenlange Unschärfe „den Zuschauer zurück“, wie es Schütze wünscht oder verhält sich der Zuschauer zum Bild oder kann er „einfach nichts damit anfangen“, wie es eine Diskutantin empfindet.

‚Geräuschemachen’ und Material

Neben der Realitätsbeobachtung ist der Film aber auch „gebaut“. Schütze selbst führt sich in den Credits als „Foley Artist“, denn für jeden Raum wurde eine eigene Tonebene kreiert, um die verschiedenen Räume zu etablieren. Besonders wegen den Mikrofon- und damit Tonproblemen vor Ort war eine Nachsynchronisation nötig, um den Bildern so eine stärkere Materialität zu geben. Eine andere Frage ist die des Filmmaterials: „Müssten solche Bilder statt auf Video- bzw. DV- nicht auf Filmmaterial gedreht werden, da der Verlust an Tiefenschärfe einen Verlust an Raumrealität mit sich bringt?“ Die Entscheidung nicht auf Filmmaterial zu drehen, ist eine ökonomische Entscheidung, gibt Schütze zu. Es wäre für die Filmemacherin schlicht und einfach nicht zu finanzieren gewesen.

Aufführung

Eine Aufführung des Films vor Ort ist geplant, allerdings, so erklärt Annett Schütze, weiß sie nicht, was sie in MOSKATCHKA dann erwartet…