Film

Durchfahrtsland
von Alexandra Sell
DE 2005 | 91 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 29
31.10.2005

Diskussion
Podium: Alexandra Sell
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Roman Fasching

Synopse

Zwischen Bonn und Köln, nicht Stadt, nicht Land – das Vorgebirge. Nur zwanzig Straßenbahnminuten entfernt vom Kölner Dom liegt und leuchtet die Provinz. Man pflegt Rituale und Feindschaften. Man hat sich eingerichtet, denn man braucht eine Heimat. Vier Protagonisten werden über ein Jahr beobachtet. Von der Kamera und dem Kommentar.  

Protokoll

Die Diskussion zum Eröffnungsfilm durfte angemessen friedlich verlaufen. Sells Antwort am Podium auf die Einstiegsfrage nach der Motivation zum Film findet sich auch im Info- Blatt des Filmes. Es war während eines Aufenthalts in England, als die gebürtige Hamburgerin ihre Neugier auf die deutsche Provinz entdeckte. Auf dem Duisburger Podium formuliert sie ihre These zum daraus entstandenen Film: Man kann überall anfangen, nach Geschichten zu suchen – und dann findet man sie auch.

Der vielleicht ethnographischen Blick des Filmes erinnert Ruzicka anfangs an einen „Reiseessay.“ Essay: Ja, antwortet Sell, Reise: Nein, weil es ja keine echte Bewegung gibt, es bleibt statisch, im Film. Die darauf hin drohende Diskussion um Kategorisierung und Genre von Durchfahrtsland wird ein wenig später bei „Ethno-Essay“ beendet.

Das Gespräch dreht sich dann aber weiter um die Protagonisten. Ruzickas sieht sie durchwegs eher als rand-ständig, aber sie seien doch auch vektoriale Größen? Dem stimmt Sell zu, ihre Protagonisten sind alles auf die eine oder andere Weise Randfiguren. Als Regisseurin des Films war ihr von Anfang an wichtig, dass sie sich mit ihnen irgendwie identifizieren konnte. Und das ging für sie einfacher mit Leuten die am Rand stehen, oder zumindest ein wenig anders sind. Dort, am Rand, findet man dann auch richtige Geschichten. Die Häuptlinge im Dorf sind zwar zu leicht zu finden, aber da es ihnen eigentlich immer gut geht, sind ihre Geschichten auch nicht wirklich abendfüllend.

Da der Film so mit seinen Protagonisten bewusst mit Überhöhungen und Ritualen arbeitet und funktioniert, sah sie auch keine Notwendigkeit, alltägliche Tagesabläufe zu dokumentieren. Keine Mitte. Für Sell war am Ende der richtige Weg für ihren Film, das Spiel mit einem So-könnte-es-gewesen-Sein. Deshalb wurden auch die gedrehten Interviews, obwohl erst sehr spät, im Schnitt aus dem Film genommen.

Während dem Dreh, erzählt Sell, wies sie die Menschen immer darauf hin, dass ihr Ansatz kein journalistischer, sondern ein künstlerischer sei. Wer es wissen wollte, dem wurde auch gesagt, wer die Hauptprotagonisten sind. Bei den meisten Leuten aus der gezeigten Gegend kommt Durchfahrtsland auch gut an. Sie erfährt größtenteils schöne Reaktionen, und nur wenige der Dorfbewohner die den Film gesehen haben „würden gerne mehr Obstbäume sehen.“

Die Entscheidung für den Text fiel früh. Aus ihren eigenen Erzählungen direkt nach dem Drehen, entstand der Text dann mehr oder minder beim Einsprechen und auch in enger Zusammenarbeit mit der Cutterin. Anfangs wollte Sell den Text nicht selbst sprechen. Ein

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Test mit einer Schauspielerin hat aber gezeigt, dass niemand so sehr wie die Regisseurin selbst den Text verinnerlicht hatte.

Dann kurzer Stau auf der gemütlichen Durchfahrt. Publikumsmeldung von der Rückbank. Spätestens als der junge Mark, den man anfangs im Anorak schnell lieb gewonnen hatte, spätestens als der Junge sich entscheidet Florist zu werden, wird es suspekt, denn da funktionalisiert der Film seinen Protagonisten und entfernt sich somit von der Beobachtung. Ein Vergleich zu Kluge und seinem auktorialen Kommentar wird gezogen, und man sucht sich zur Frage durch, ob es denn nun ein autobiographischer Film ist, oder eine Suche nach Menschen, die aus dem Vorgebirge weg wollen. Auch Ruzicka antwortet kurz und analytisch, leitet die Bemerkung weiter, und kommt bei der Frage an, ob die Protagonisten am Ende als Personen in einem gelungenen oder einem gescheiterten Kontext da stehen. Sell verneint jegliche im Voraus auf ein Scheitern angelegte Dramaturgie. Es hätte, versichert sie, auch alles ganz anders ausgehen können. Marks Entscheidung, Florist zu werden, ist Zufall.

Im Sinne der fehlenden Entwicklung der Protagonisten wird nachgehakt. Was der Protagonist fühlt, werde nicht gezeigt, und dem Film fehlt eine neutrale Beobachtung von Heimat. Die Regisseurin erklärt erneut, sie wollte einen Mikrokosmos beobachten, ein Lebensgefühl erzählen, und nicht eine neutrale Beobachtung machen.

Gegen Ende wird noch einmal die Thematik der Außenseiter in der Dorfgemeinschaft angesprochen, am Beispiel der Autorin Sophia Rey die mit dem Neid der Anderen kämpfen muss. In Dorfgemeinschaften, so Sell, ist der Raum für „Sonderlinge“ einfach anders als in Städten. In manchen Bereichen bleibt er kleiner, in manchen ist er aber auch größer. Es ist ein typischer Ansatz für Beobachtungen wie die ihre, die Mitte vom Rand aus zu erzählen.

Zum Schluss Lob von Ruzicka für die beispielgebende, handwerkliche Sorgfalt des Films, und dafür wie der Film in künstlerischer Form Menschen, Landschaften und Strukturen beobachtet.