Vor knappen zwanzig Jahren war es noch Skandal oder doch milde Provokation, als die Duisburger Filmwoche als erstes Festival ihr Programm ausdrücklich Videos öffnete. Inzwischen sind Produktionen und auch Projektionen in Video selbstverständlicher Teil aller Festivals, wenn auch noch zum Teil etwas verschämt in „Sektionen“ versteckt. Das Thema ist also „durch“ – kann man so sagen? In der Tat sind Standards digitalisierter und miniaturisierter Technik so verfügbar geworden, dass – um nur ein Beispiel zu nennen – Fernsehanstalten keine technischen Einwände mehr erheben könnten, ein Amateurvideo zu senden. Und in der Tat ist mit der Popularisierung digitaler Aufnahme- und Bearbeitungsapparate ein solches technisches Wissen akkumuliert, dass – um ein weiteres Beispiel zu nennen – mancher seinen Blockbuster-Film kaum noch ohne sein „making-of“ goutieren mag. Aber es lohnt doch, gerade für das dokumentarische Genre die Fragen neu zu stellen. Ohne Zweifel sind die neuen Apparaturen für Bild und Ton auf eine Art leicht und leistungsstark, dass die – früher oft störenden oder verhindernden – technischen „Gestelle“ wegfallen. Die Apparaturen werden immer „prothetischer“,was neue, selbstverständlichere Beziehungen im filmischen Raum schafft – Möglichkeiten zu einer „besseren“ Intimität oder fragwürdiges Unterlaufen sozial oder kulturell kodifizierter Distanz? Ohne Zweifel befreit auch die nun erschwingliche Materialmenge aus den Zwängen knappster Zeit- und Finanzkalkulation. Aber war nicht das sorgfältige Bedenken, wann man was aufnehmen wollte oder konnte, nicht bereits Teil präsumptiver Dramaturgie? Dass sich nun viele Entscheidungen in die Postproduktion verlagern, macht die Sache nicht wirklich einfacher, denkt man an das Volumen des Materials, das zu sichten, zu ordnen und schließlich zu erzählen ist.
Dieser Befund ist zu bewerten – das soll ein erster Schritt des diesjährigen „Extras“ sein. „Material“ dazu ist genügend mit den Filmen dieses Festivals verfügbar. Wobei Material in einigen der Produktionen „Fremd“- oder Archivmaterial ist – auch hier verschaffen die digitalen Verfahren Zugriffs- und Bearbeitungsmöglichkeiten, die nicht ohne Konsequenz für das dokumentarische Geschichtsbild sind. Das Reden soll durchaus auch etwas perspektivischer werden: So gibt es ermutigende Anzeichen, dass sich eine neue Autonomie und ein neuer Wagemut sowohl in der Produktion wie in der Distribution abzeichnen. Die neuen Trägermedien wie Projektionsapparate könnten tendenziell den Ort „Kino“ disponibel machen und dem Dokumentarfilm neue Publika erschließen. Und schließlich: Wird man sich mit einer Analogie zum Medium Musik anfreunden müssen? Werden digitale Filme ähnlich immateriell im technischen Universum vagabundieren wie derzeit die Töne? Man muss es wohl denken. Material also genug.
Protokoll
Das Motto des diesjährigen Extras wurde programmatisch gewählt, um über die basalen Strukturen des Dokumentarischen zu sprechen. Man kann dabei nicht von Entwicklungen reden, die gänzlich neu sind. So soll der Umgang mit digitalen Techniken beleuchtet werden – vielleicht unter Einbezug einer dialektischen Umkehrung: Material, das sich als immateriell verflüchtigt. Dazu erwähnt Werner Ruzicka einen von Hartmut Winkler verwendeten Begriff des wachsenden „Bilduniversums“, benennt ihn als Kokolores, wo man wohl eher von einem wachsendes Textuniversum sprechen muss.
Die Gesprächsteilnehmer umreißen ihre Thesen.
Gesa Marten, Dozentin an der Universität Köln, seit 13 Jahren Cutterin und als dramaturgische Beraterin tätig, versucht aus der Sicht der Postproduktion mit sechs Thesen Bezüge zum Diskussionsstoff herzustellen:
1. Die digitale, preisgünstigere Kameratechnik ermöglicht es Regisseuren selbst die Kamera in die Hand zu nehmen, auch ohne Kameraausbildung. Das führt zu undogmatischen Stilen, wodurch veränderte Schnitttechniken entstehen.
2. Durch das digitale Medium verändern sich die Arbeitsabläufe, das Material kann zu jedem Zeitpunkt neu sortiert werden.
3. Ein Band ist aus einer Hand herstellbar. Dabei muss über den Sinn des „all in one“ diskutiert werden.
4. Wie auch immer die Technik sich entwickelt, entscheidend bleibt die Dramaturgie – bereits vor und während des Filmes wie auch im Schnitt.
5. Es entstehen neue Modelle der Zusammenarbeit, manche Autoren nehmen sich zur Aufgabe, das Material vor- und auszusortieren, wie z.B. Bettina Braun, die für „Was lebst du?“ eine dreistündige Fassung für den Schnitt vorbereitete.
6. Crossover-Techniken finden Verwendung – auch MiniDV findet den Weg ins Kino.
Seit der Verfügbarkeit der neuen Techniken sieht Gesa Marten eine größere Arbeitsteiligkeit, was Dramaturgie, Schnitt, Tonbearbeitung und Farbkorrektur betrifft. Nicht in der Verwaltung größerer Mengen Materials sieht sie das Problem, eher im zeitlichen Aufwand, der betrieben werden muss, das Material zu strukturieren und zu schneiden. Sie selbst strukturiert das Material in Ordnern im Computer sowie auf Karteikarten an der Wand, um sich einen Überblick zu schaffen – eine Form der Verschriftlichung der Bilder.
Das Material heute mag bewegter sein, schneller geschnitten und gut in der Postproduktion bearbeitet werden, wesentlich bleibt die dramaturgische Strukturierung, die ergreifend und spannend sein muss. Die größte Errungenschaft digitaler Technik ist für sie der neu gewonnene Spielraum.
Jörg Adolph, Autor verschiedener Dokumentarfilme, begann vor zehn Jahren an der Filmhochschule München. Im Videoformat sah er damals eine Befreiung, die Utopie einer caméra stylo war etwas näher gerückt. Doch zugleich fühlte er sich in einer Zwickmühle, denn bei der Professionalisierung dokumentarischen Arbeitens hatte für ihn weiterhin das Celluloid Bestand.
Adolph bezieht sich auf den Theoretiker Immendorf, der die Vorteile der digitalen Medien zugespitzt herausgearbeitet hat, spricht aber von einer Angemessenheit im Umgang, die wichtig ist, damit die Technik nicht zum Selbstzweck wird. Adolph landete bei den Dreharbeiten zu „Kanalschwimmer“ bei hundertfünfzig Stunden Material, gedreht auf DigiBeta. Obwohl er mit der Qualität unzufrieden war, weiß er, dass er sein Projekt auf Celluloid nicht in dieser Form hätte realisieren können. Und erst mit seinem neuesten Projekt über die Literaturherstellung bei John von Düffel hat er sich die MiniDV Kamera zunutze machen können, ohne die es ihm nicht möglich gewesen wäre, die sich ergebenden Situationen im Alleingang, der dabei wesentlich war, einfangen zu können.
Mit einem Zitat von Karl Kraus, bei dem er den Begriff des Vorläufigen hervorhebt, erklärt er seine dokumentarische Herangehensweise an Düffel und seine Arbeitsweise: „In der Werkstatt den Dichter zu zeigen, ist ein Problem der modernen Photographie. Die meisten widersetzen sich, weil sie sich schämen, in der Anwesenheit des Photographen schöpferisch tätig zu sein… Über die Schwierigkeiten, die sich hierdurch ergeben, ist vorläufig nicht hinwegzukommen.“
In der Flexibilität des Umgangs mit modernen Techniken, die es erlauben, die Arbeitsprozesse des Filmproduzierens zu parallelisieren (Komponist und Grafiker können anhand der gedrehten und für sie überspielten Bilder bereits mit ihren Arbeitsschritten beginnen, während das Drehen parallel weiterläuft), sieht Jörg Adolph einen Gewinn. Jedoch wünscht er sich durch flexible Etats, Sendeplätze und Förderungen eine Unterstützung, die eine freie Wahl des Filmmaterials weiterhin garantieren können.
Werner Schweizer, Filmschaffender, Produzent bei Dschoint Ventschr und Pionier- Mitglied der Videobewegung in den achtziger Jahren erprobte sehr früh die Chancen digitaler Produktionsweisen. Eine Demokratisierung kann durch Digitalisierung der Arbeitsprozesse gefördert werden, doch wird seiner Meinung nach dadurch das Trennen „von Spreu und Weizen“ schwieriger. Hinter „Demokratisierung“ setzt er ein Fragezeichen. Was für den Fernsehbereich Geltung haben mag, dass man kostengünstiger produzieren kann, dem muss Schweizer für den Kinodokumentarfilm widersprechen. Denn nun muss das eingesparte Geld für Offline-Schnitt und Postproduktionsprozesse aufgewendet werden. Schweizer war nie dogmatisch auf die Videobewegung fixiert und wählte, wenn es sinnvoll erschien, jederzeit Super16 oder 35mm-Film. Sabine Gisiger, deren neuer Film von Dschoint Ventschr produziert wird, hat über ihren Kameramann HD und dessen ästhetische Qualitäten als neues Medium entdeckt. Die Möglichkeiten dieses Formats sind sehr weitreichend und problemloser, doch entsteht während des Filmens fast ein ähnlicher Aufwand wie bei Celluloid.
Im Umgang mit den neuen Bildern sieht er im Schnitt und bei den größeren Mengen an Bildmaterial kein Problem, doch plädiert Schweizer beim Sichten der Schnittfassungen für neue Rezeptionsformen durch größere Monitore oder Videobeam, um früh genug das Material genau kennen zu lernen, und nicht erst bei der Bildbearbeitung auf eine Reihe von Problemen zu stoßen. Einen besonderen Vorteil des Digitalen sieht er in der Möglichkeit, vorab Teaser oder Samples erstellen zu können, um diese z.B. an Pitchings zu verwenden.
Wie der Film „Züri brännt“ ausgesehen hätte, wenn er ihn auf HD gedreht hätte? Vielleicht technisch besser, aber wesentlich war und ist ihm die Arbeit im Kollektiv, die stattfinden muss – sie macht den Film aus. Production value bezieht Werner Schweizer in erster Linie auf das Handwerk und gute Teamarbeit.
Zusammenfassend hält Werner Ruzicka „ein erfreuliches sowohl als auch“ fest. Das Erproben der Materialien ist allen wünschenswert, doch der Traum von Opulenz und die inhaltliche Komponente bleiben wesentlich mitzubedenken.
Bettina Braun greift das Votum von Gesa Marten auf und betont, dass sie früher bereits als Cutterin gearbeitet hat und ihr das Erstellen einer Rohschnittfassung für „Was lebst du?“ nicht schwer gefallen sei. Doch für den Schnitt war dann der Kommunikations- aspekt mit ihrer Cutterin ausschlaggebend. Was früher schon während des Drehens passierte, der Austausch mit anderen, hat bei ihr intensiv erst im Schnitt begonnen. Eine eventuell befürchtete Verselbständigung von Autoren verneint sie.
Anders als bei „Rhythm is it!“, bei dem die Etablierung von Orten auf HD (nicht auf Film) gedreht worden ist, hält Marten fest, fehlen Verortungen in den Bildern von Bettina Braun – vielleicht weil im filmischen Alleingang der Kontakt zu den Protagonisten gewahrt werden muss, so sind bei ihr auch Situationen selten aufgelöst. Das stellt für Marten kein Problem dar, ist aber festzuhalten.
Filmbilder kann man sich länger ansehen, bei Video ist man eher auf Personen fixiert – nicht zuletzt, weil DV-Bilder, wie man dies bei „Kanegra“ sehen konnte, „grisellig“ wirken, wie Ruzicka festhält. Und bezugnehmend auf die Aufschreibesysteme Kittlers: Es haben sich mit neuen Aufschreibesystemen auch neue Ästhetiken herausgebildet. Bettina Braun weist darauf hin, dass sich durch die veränderte Kameratechnik auch das Lesen der Bilder bei Rezipienten und Filmemachern geändert hat.
Ein anwesender Journalist bemerkt, dass der Produktionsdruck gestiegen ist, er wird gedrängt billig und alleine zu arbeiten, was sich auch auf den Dokumentarfilm in Bezug auf Förderungen auswirken wird.
Werner Schweizer betont, dass es die wesentliche Aufgabe der Produzenten ist, die Rahmenbedingungen für große Filme weiterhin zu schaffen, ohne dabei Kompromisse eingehen zu dürfen.
Ruzicka stellt den Bezug zum Kraus-Zitat und zum Moment des Vorläufigen her und weist darauf hin, dass man durch das Digitale andere Begriffe von Zeit und Raum darstellen kann. Nur wie kann man so was im Fernsehen unterbringen?
Adolph bekräftigt, dass bestimmte Inhalte bestimmte Formen benötigen, erwähnt dabei, dass er während seiner Filmarbeiten auf DV von Fernsehleuten, mit denen er zufällig zusammengetroffen sei, belächelt wurde.
Die These, dass das Schneiden – bei Celluloid das Zusammenkleben des Filmmaterials – eher den Frauen zugeordnet war, mit der Digitalisierung auch bei Männern Interesse weckte und demgegenüber die Kamera früher phallisch und autoritativ auch in sozialer Konsequenz Bedeutung trug – diese These wird aus dem Publikum verworfen, denn die auratische Wirkung ist und war das, wie die Menschen/Männer sie einsetzten.
Jemand kommt auf Karmakars Sequenz der interviewten, alten Frau zurück und ihren Wunsch, keine Bilder zu veröffentlichen. Der Distanzraum wird kleiner durch eine unauffällige Kamera. Der Frau war nicht bewusst, dass sie gefilmt wurde, so kann man mit DV umgehen, doch das „Stehlen von Bildern“ als Gefahr oder als Möglichkeit zu sehen ist mit Jörg Adolph jedem selbst überlassen. Für Gesa Marten darf sich durch digitale Bilder die Verantwortung, auch die Moral, nicht verändern.
Gespeicherte Zeit – bearbeitete Zeit – ein neuer Aspekt der Diskussion.
Gesa Marten sprach von einem Verschriftlichen der Bilder. Werden sie zu einer Katasterordung? Scheint dabei ein milder Anarchismus auf? Gesa Marten braucht die grobe Struktur als Bezug, im konkreten Kontext des Schnitts werden die Bilder genau betrachtet, um Verwendung zu finden. Eine Verschlagwortung von Bildern, wie sie das bei einem Projekt erlebte, hält sie nicht für förderlich.
Als noch analog geschnitten wurde, musste er sich die Bilder viel genauer einprägen, erzählt ein Zuhörer, die Suche dauerte oft lange Minuten, während man durch das digitale Ordnen einzelne Bilder viel schneller finden, einsetzen und gegebenenfalls wieder verwerfen kann. Lange zu drehen ist nicht unbedingt etwas Neues, aber die Möglichkeit, das Gedrehte schnell einsehen zu können. Heute gibt es bereits kleine thumpnails, die die geordneten Sequenzen durch ein Einzelbild versinnlichen und die visuelle Erinnerung unterstützen. Einen Nachteil sieht er darin, dass sich das Drehverhalten geändert hat, es wird gefilmt mit der Ansicht, dass sich schon irgendwas ergeben wird. Ein Anderer bemängelt, dass durch das Digitale die Bilder nicht in ihrer Tiefe erfasst werden und erst bei der Projektion Mängel erkannt werden können. Dies kann man, wie Schweizer bereits erwähnte, durch Verwendung von Plasmabildschirmen oder Videobeam umgehen.
Ist die Kamera „lebensverdichtend“, fördert das digitale Material eine neue Qualität der Arbeit, wenn man zwar sechs Stunden dreht, aber genau dabei vier wesentliche Minuten festgehalten werden? Für Marten hat sich nicht geändert, den dramatischen Moment festhalten zu wollen, nur ist dies billiger geworden. Als Gegenargument wendet jemand ein, dass man Situationen konstruieren kann und so lange filmt bis sich etwas ereignet, oder ähnlich wie Andres Veiel dies für eine Sequenz erläuterte, man die Rahmenanordungen ändern kann.
Qualitative Arbeit zeichnet sich gerade dadurch aus, dass man die Konzentration nicht verliert, und als Regisseur die Entscheidungen kontrolliert, wann gefilmt wird und wann nicht.
Die Bilanz – es gibt eine Sehnsucht nach Film, eine Unlust auf digitale Bilder. Braucht man das digitale Medium, weil man sich einem bestimmten Stoff nur auf diese Weise nähern kann, so besteht die Möglichkeit die Bildqualität durch das Aufblasen auf 35mm zu verbessern. Die Übergänge zwischen Film und Video sind spannend. Nach wie vor ist entscheidend was erzählt wird, nicht die Form macht die Bilder, sondern die Geschichte den Film. Auf dass die Filme der Duisburger Filmwoche dies beweisen!