Film

Jarmark Europa
von Minze Tummescheit
DE 2004 | 120 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 28
12.11.2004

Diskussion
Podium: Minze Tummescheit, Arne Hector (Kamera)
Moderation: Fred Truniger, Margarete Fuchs
Protokoll: Andrea Reiter

Synopse

„Weberschiffchen“ werden die fahrenden HändlerInnen genannt, die täglich aus allen Winkeln der ehemaligen SU über die Grenze nach Warschau strömen: zum Jarmark Europa, einem der größten Basare Osteuropas. Der Markt als Magnet einer stillgelegten Welt, Handeln um zu überleben. Ein Film über den Ausverkauf einer Gesellschaft, über Fremdheit und Befremden, Grenzen und Grenzüberschreitungen. Zusehen oder Wegsehen?

Protokoll

Das Bildvakuum, mit dem sich ein Filmemacher konfrontiert sehen kann, muss im Film überwunden werden. In „Jarmark Europa“ wird der Katalog von nicht gemachten oder unbrauchbaren Bildern thematisiert, das Unzeigbare wird durch Assoziationen visuell und sprachlich umgesetzt. Die reisenden, Handel treibenden Frauen werden in Russland Tschelnoki (Weberschiffchen) genannt, denn wie solche bewegen sie sich regelmäßig zwischen Heimat und Markt. Solche Sprachspiele und deren Bedeutungszuwachs für das Erzählte interessieren die Filmemacherin. Die Russische Bezeichnung ist treffender und sicherlich poetischer als der Deutsche Begriff des „Ameisenhandels“. Es ist eine Metapher, die konzeptionell die Struktur des Films gestaltet. (Wenn auch bei manchem Zuschauer im steten Hin und Her der Faden gerissen zu sein scheint.)

Das Zeitgefühl der Protagonisten ist ein ganz anderes als das des Filmteams. Während der Reisen erleben sie ein Moment der Ruhe, Zugreisen erweisen sich dort als viel kultivierter als hier. Das Montageprinzip reflektiert die Pendelbewegung der Reisenden, der Protagonistinnen und jene des Teams. Problematisch ist dabei, dass sich die Erzählung nicht zuspitzt – eine Klimax fehlt. Das liegt zum einen daran, dass die wiederholten Besuche es ermöglichen sollten, den Protagonistinnen näher zu kommen, Veränderungen bei ihnen wahrzunehmen und die gesammelten Eindrücke mit anderen Augen wiederzusehen, andererseits sollte die vergehende Zeit sich in den Bildern widerspiegeln. Über die Jahreszeiten konnte dieses Konzept sehr schön gelöst werden, trotzdem sah sich die Filmemacherin mit der Frage konfrontiert, einen Schlusspunkt für die Dreharbeiten zu setzen. Doch während sie auf dem Markt immer wieder neue Veränderungen wahrnahm, die sie am Liebsten alle im Film erzählt hätte, kann die stete Hin- und Herbewegung auch als Prinzip des Marktes verstanden werden. Sie ist im Film hinreichend, wenn nicht gar überdeutlich repräsentiert. Durch die kleinen Entitäten filmischen Erzählens wirkt der Film eher panoptisch als panoramatisch, der Zuschauer wird durch die vielen Geschichten überschwemmt, wenn nicht gar überfordert.

Durch die besonderen Drehverhältnisse, dass sich das Team in manchen Situationen unerwünscht fühlte, dass ihr Filmen von fremder Seite oft kritisiert oder gar angefeindet wurde, entstand für die Filmemacherin der Wunsch, dies in den Film einzubeziehen. Sie wollte sich positionieren und diese Drehsituationen, die in Dokumentarfilmen selten reflektiert werden, nicht glätten. Verwirrung stiftet, dass der Darstellung und deren Analyse sehr viel Platz eingeräumt wird, es aber zugleich erscheint, als sei der Film hin- und hergerissen zwischen der eigenen Scham (während des Filmens) und einer Neugierde, sich den Situationen auszuliefern. Ausliefern wollte man sich dem bestimmt nicht, damit wurden sie nun mal konfrontiert.

Für Arne Hector, einziger Mann in einer „Verschwörung der Frauen“, stellte sich diese Rolle als Herausforderung dar, mit der er gut umgehen konnte. Auch mit wenigen Russischen Sprachkenntnissen war eine Verständigung möglich und für alle zählte die fruchtbare Zusammenarbeit.

Dass der Film viel zu lang und quälend ist, die Form der Ellipse nicht aufgeht, im letzten Teil nichts Neues mehr erzählt wird, ein langes Ende nach dem vermeintlichen Schluss ein ungutes Gefühl hinterlässt und ein dramaturgischer Blick auf den Film gut gewesen wäre, dem wird von anderer Publikumsseite sogleich widersprochen. Denn die Doppelungen sind gewollt und beinhalten durch Verschiebungen immer einen Mehrwert, der Zuschauer soll den nochmaligen Besuch miterleben. Jemand, der den Markt selbst mehrfach besucht hat, kann zwar den Wandel von dem die Regisseurin spricht, nicht wirklich erkennen, findet aber das Wandeln über den Markt und die Verwirrung, die dabei entstehen kann, durch den Neustart (oder Reload) adäquat wiedergegeben. Und wo sich mancher Zuschauer an der Hand genommen fühlt, weil der Text das, was in den Bildern zu sehen ist, scheinbar bloß doppelt, da hat er vielleicht die Verschiebungen zwischen Text- und Bildebene nicht wahrgenommen.

Euphorischstes Publikumsstatement: Der Abspann ist die Klimax. Durch Beschleunigung und „Entschleunigung“ des Zuges findet sich hier die Struktur des gesamten Films kondensiert – untermalt von „geiler, Russischer Mucke. Dann knallt’s und der Film ist fertig.“

Im Film werden die Händlerinnen am Rande der Legalität beobachtet, auf den illegalen Handel von Wodka wollte man sich nicht konzentrieren, um diese Händler nicht zu kompromittieren. Warum das „Verchecken“ und die Preisabsprachen untereinander nicht vorkommen, wie dies im Dokumentarfilm „Der chinesische Markt“, der vor einigen Jahren in Duisburg lief, beschrieben wird, liegt vielleicht daran, dass der Markt in Warschau für Endabnehmer ist und kein hole-sale Markt. Bei „Jarmark Europa“ stand im Zentrum, den Menschen nachzuspüren.

Der Text zu „Jarmark Europa“ entstand vor dem fertigen Schnitt. Immer erzählt er mehr oder anderes als auf den Bildern zu sehen ist. Mal beschreibt er Situationen nahe am Visuellen, mal löst er sich von dieser Ebene. Er enthält viele essayistische Momente und basiert auf Tagebucheintragungen, die immer wieder auch den Prozess des Filmens reflektierten.