Film

schlittenschenken
von Erwin Michelberger, Oleg Tcherny
DE 2002 | 82 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 26
07.11.2002

Diskussion
Podium: Erwin Michelberger
Moderation: Jutta Doberstein
Protokoll: Malte Krückels

Synopse

Renate ist ermordet worden. Der Tod der recht unbekannten Dichterin führt ihre Geliebte, ihre Eltern, ihre Ärztin und die Freundinnen aus der Schulzeit und der Literaturszene zusammen. Erinnerungen werden wach, Fragen aufgeworfen. Ihre Dialoge werden durch wortlose Erzählungen aus Masada und Hebron unterbrochen. Renates Traum von Israel.

Protokoll

Gefährdete Personen ‒ überall.

Die Titeleinblendung „Orginalidee: Erwin Michelberger“ münzte Jutta Doberstein in ihre erste Frage um. Und die Antwort führte neben einer direkten Erklärung (persönliche Freundschaft mit Renate Neumann, der mittelbar ‚biografierten‘ Person) auch gleich die zentrale Fragestellung des Autors an: Was wussten wir voneinander? – oder allgemeiner: Ist der Zugang zu der Welt des anderen eine Illusion?

Jutta Doberstein stellte (für sich und mutmaßlich auch andere) fest, dass die Freundschaft zwischen Renate N. und dem Filmemacher dem Film selbst nicht anzusehen ist, und schloss die Frage zur Regieführung während der Gespräche an: Sie bemerkte ein TV-Studio-Setting. Der Autor bestätigte dies: Bei den Gesprächsrunden (mehrere Abende mit Gruppen aus zwei bis drei Bekannten/Freundinnen/Elternteilen von Renate N.) waren die Kamerapositionen weitestgehend festgesetzt; fünf Themenblöcke wurden vorgegeben.

Für viele Diskutanten auffalllend und erläuterungsbedürftig war der Ultrakontrast zwischen diesen Gesprächen und den (logischerweise nonverbalen) Erzählungen eines taubstummen Palästinensers. Der Autor plausibilisierte, indem er das Renate Neumanns Verhältnis zu Palästina mit deren Aussage charakterisierte: „Wo alle bedroht sind, fühl‘ ich mich frei.“ Weil im Angesicht der Situation von Israel/Palästina jedes Wort zu viel sei, verzichte der Film hier auf jegliche Sprache.

Ein deutsches Leben ‒ ein deutscher Tod?

Jutta Doberstein stellte die These auf, dass Renate Neumann die deutsche Geschichte in

ihren Körper aufgenommen habe: Die Verfolgung der Juden (über ihren jüdischen Liebhaber), die Paranoia der Siebziger (über den Soli-Hungerstreik mit Holger Meins) ‒ und fragte, wie

das Pali-Tuch hier noch was retten kann.

Erwin Michelberger mochte soweit nicht gehen, sondern blieb extrem skeptisch, was das Verstehen der Welt und die eigenen Handlungsoptionen angeht. Er habe kein Polit-Magazin- Beitrag gemacht, eine Eindeutigkeit in der Stellungnahme eröffne keine neuen Türen. Analog reagiert der Autor auch auf den nachgereichten Vorschlag, mehr Bildmaterial zur narrativen Illustration zu verwenden: Diese Gefahr habe er bewusst dadurch gebannt, dass er nur das Palästina-Material verwendet habe. Und auch hier war die Falle zu umgehen, Schuldige und Unschuldige zu präsentieren.

Den (variiert vorgebrachten) Einwand, dass der Film eine pathografische Studie sei, der nur die unterstellten Annahmen der Sprechenden über Renate Neumann verdoppele ‒ und sie deshalb immer als pathologische Fall sehen müsse, konterte der Autor brilliant (aber etwas simplifizierend) mit dem Hinweis, dass es gerade die pathologisierende Wahrnehmung des Fragenden sei, die in zu einer solchen Sichtweise führen würde. Folgerichtig dann auch die Erwiderung, dass die psychologisierende Sprache aber doch deutlich vorherrschend sei. Die Entgegnung von Erwin Michelberger, dass wir immer auf Sprache angewiesen sind, war unbestreitbar ‒ aber im Austausch der Argumente nicht weiterführend.

Man konnte sich kaum des Eindrucks erwehren, dass der vom Filmemacher geäußerte Zivilisationspessimismus ihm genauso viel Angst macht wie die Selbst-Transformation des Autors in die gefilmten Personen: „Alle Freudinnen sind gefährdet.“