Extra

Daneben, dahinter, dazwischen, dabei: Bedingungen und Versionen des Authentischen im Fernsehen III

Duisburger Filmwoche 26
08.11.2002

Podium: Volker Heise (Regie), Christoph Hauser (Hauptabteilung Kultur, SWR), Rolf Schlenker (Redaktion Wissenschaft, SWR)
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Malte Krückels

SCHWARZWALDHAUS 1902 – Das Leben vor 100 Jahren

Eine Serie von Volker Heise und Rolf Schlenker

Protokoll

Rückschritt als Konzeption

Ende-Geländer

Meta-konzeptionell ging hier einiges: Die Nachzeichnung der Ergebnisse der vorangegangenen beiden Extras zum Thema ‚Authentizität‘ hallte nur noch als Nachruf durch den Raum. Wiederbelebungsversuche während des dritten und letzten Extras zum SWR/ ARD-Vierteiler Schwarzwaldhaus 1902 blieben halbherzig und (in Folge dessen?) unerfolgreich.

So formulierte Vrääth Öhner vor Beginn des Films zwar noch , dass der Begriff des Authentischen nicht als Waffe tauge, und präsentiert zur Diskussionseinführung noch einen kurzen Abriss:

1. der Sichtweise der Fernsehkritik, die das Fernsehen (im Anschluss an Williams‘ flow- Begriff) als geradezu inauthentisches Medium über lange Zeit betrachtet habe,

2. der These, dass das Fernsehen sich die eigenen Voraussetzungen schafft, um Authentizität zu erzeugen, und unterschiedliche Authentifizierungstrategien verwendet,

3. der Paradigmaverschiebung von der Augenzeugenschaft zum Durcharbeiten ‒ und der sich daraus ergebenden Unmöglichkeit, zu abschließenden Bewertungen zu gelangen.

Überdeterminierter Schwarzwald

Das von Vrääth Öhner vorgebrachte Bonmot „Die Vergangenheit ist ein fremdes Land.“

brachte Christoph Hauser auf die Fährte, die Entstehunggeschichte der Produktion vorzustellen: Die Idee zu der Kurzserie entstand zur Feier des Jubiläums des 50-jährigen Bestehens des Bundeslandes Baden-Württemberg, der Schwarzwald wurde ausgewählt, weil der eine typische Entwicklung von einer Agrar- zu einer Mittelstands-Gesellschaft durchlaufen habe und weil die Sicht auf ihn durch zahlreiche Klischees geprägt sei. Neben den klassischen Doku-Formaten (ca. 200 bis 220 Produktionen im Jahr) werde hier ein neues Konzept ausprobiert. Rolf Schlenker ergänzte hierzu, dass es im angelsächsischen Raum schon länger living history-Formate gebe, an denen man sich u.a. orientiert habe. Weiter beschrieb auch er den Schwarzwald als eine mythenaufgeladene Landschaft.

Auf die Frage von Vrääth Öhner nach der Hybridität von Mythos und Alltagsleben antwortete der Regisseur Volker Heise, dass er darauf geachtet habe, die Vorurteile und Klischees über den „überdeterminierten Gegenstand“ Schwarzwald zu unterlaufen und in Frage zu stellen. Er sprach davon, den Clash der (historisch differenten) Kulturen zeigen zu wollen.

Zeitreise ‒ leicht gemacht

Diese Differenz sah Vrääth Öhner durch die Verwendung zweier formaler Ebenen ausgedrückt: Auf der einen Seite reality-TV, auf der anderen Bildungsfernsehen. Der Autor hatte eine etwas homgenisierendere Sicht und sprach davon, neue Formen für das Bildungsfernsehen finden zu wollen. Ähnlich fasste es Rolf Schlenker, der mit der Serie die historischen Bedingungen erläutern wollte: die Agrarwirtschaft, die Architektur, das Alltagsleben zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Vrääth Öhner merkte an, dass er den reality-Aspekt nicht nur als Versüßungsmittel für den Bildungsapekt sehe, sondern dazu diene, 1. der Vergangenheit nahe zu kommen und 2. sich einen Wettbewerbsvorteil gegenüber ‚klassischen‘ historischen Doku-Formaten zu verschaffen. Den Versuch, nahe an die Vergangenheit zu kommen, sah Christoph Hauser als geglückt an: Die „normale Familie“ diene dabei dem Zuschauer als Identifikationspunkt.

Als Vrääth Öhner von Kostümen sprach und der Autor sich explizit dagegen verwahrte („Keine Kostüme, sondern Kleidung“), zeigten sich (erste) Differenzen darüber, wie real reality ist und wie historisch Histo-reality sein kann. Volker Heise gestand zwar zu, dass es sich um ein Spiel handele, aber um eines, dass dazu diene, an Schichten der Geschichte heranzukommen. Gleichzeitig werde der Spiel-Charakter aber deutlich gemacht, z.B. durch die verwendeten Videorahmen. Christoph Hauser äußerte die Vermutung, dass solche Zeitreisen-Spiele nur dann gelingen, wenn die historischen Orte nicht zu weit entfernt lägen. So seien 100 Jahre noch überbrückbar gewesen, um basale Erfahrungen wie Hunger, Leid und Gelingen unter historischen Bedingungen nachzuleben.

Die Publikumsrunde wurde mit einem fulminanten Auftritt eröffnet: Schwarzwaldhaus 1902 bediene sich auf noch beknacktere Weise einer Abfolge von Aktion und Reaktion, als dies von Big Brother vorgemacht worden sei. Ein Vorwurf, der (variiert) mehrfach vorgebracht wurde ‒ und auf den von den Machern unterschiedlich reagiert wurde: Während Rolf Schlenker meinte, in der vorliegenden Serie sei mehr Abstand für Reflexionen möglich als bei Big Brother, begründete der Regisseur (, der Big Brother gar nicht so furchtbar fand), die Verwendung der Tagebuchkamera mit der Notwendigkeit, nicht durchgehend mit der Kamera vor Ort gewesen sein zu können/wollen und dennoch dramaturgische Konsistenz sicher stellen zu müssen.

Noch grundlegender gestalteten sich die nächsten Einwürfe aus dem Publikum, die grundsätzlich bezweifelten, dass es sich bei Schwarzwaldhaus 1902 überhaupt um ein Doku- Format handele: Es sei vielmehr eine Familien-Gameshow, denn die Familie seien in ein artifizielles Setting platziert worden, das allenfalls mit einem sehr reduzierten Geschichtsbegriff als historisch begriffen werden könne. Geschichte werde auf ein Set reduziert. Volker Heise mochte sich dieser Sichtweise nicht anschließen: Es handele sich um eine (neue) Art von Bildungsfernsehen, nicht um billigen Tand. Und auch Rolf Schlenker blieb fest (um nicht zu sagen dogmatisch) bei seiner Auffassung, dass man, wenn man die Serie gesehen habe, mehr über 1902 wisse, als vorher.

Vom Sich-um-Bergsteiger-kümmern

Ebenfalls stark strittig war, ob die Auswahl der ’normalen deutschen Familie mit Bergsteigermentalität‘ nicht ein klares Indiz dafür sei, dass es sich bei der Serie um eine Wettbewerbsdarstellung handele, in der sich die Teilnehmer ‚durchzukämpfen‘ haben, um zu überleben ‒ und somit die Familie unter neoliberalen Bedingungen getestet werde. Eine Argumentation, der Volker Heise nicht analytisch begegnete, sondern mit Hinweis auf die Verantwortung für die Protagonisten („Wir brauchten eine starke Familie“) eine ethische Sicht entgegenstellte.