Extra

Thomas Heise

Duisburger Filmwoche 25
08.11.2001

Podium: Thomas Heise, Peter Badel (Kamera), Detlef Kannapin (Filmwissenschaftler)
Moderation: Vrääth Öhner
Protokoll: Judith Keilbach

Protokoll

Zu Beginn der Diskussion weist Vrääth Öhner auf den seltsamen Status der beiden Filme Das Haus und Volkspolizei von Thomas Heise hin: diese beiden Mitte der 80er Jahre entstandenen Dokumente wurden bisher noch nie gezeigt. Er stellt für das Gespräch eine Rekonstruktion der Geschichte der beiden Filme in Aussicht und deutet zwei mögliche Rahmen für die Diskussion an: zum einen könne der Aspekt des Dokumentarischen in den Blick genommen werden, zum anderen könne man mit dem Begriff des temporal Anderen versuchen, die heutige Seherfahrung zu fassen.

Detlef Kannapin ordnet daraufhin die staatliche Filmdokumentationsproduktion in der DDR ein, in deren Rahmen die beiden Filme entstanden sind. Deren Aufgabe war das Abfilmen von Institutionen und Personen, diese entstandenen Dokumente seien jedoch nie zur Veröffentlichung bestimmt gewesen. Er klärt über die historischen Wurzeln dieser Einrichtung sowie ähnliche Ansätze in der Sowjetunion und anderen Staaten auf und weist auf den Zusammenhang mit organisationswissenschaftlichen Untersuchungen hin. Vom hierfür eingerichteten Institut stamme die hardware für das Projekt, so Kannapin, und schiebt einen Literaturhinweis zur vertiefenden Lektüre nach (Grimm in: DEFA-Jahrbuch, Jahr bleibt ungenannt). Schließlich erläutert er, inwiefern die beiden Filme von Thomas Heise für das staatliche Filmarchiv, dem die Filmdokumentation unterstand, ein Problem darstellten: zum einen sei natürlich der Inhalt brisant, zum anderen habe jedoch auch ein Konzept vorgelegen, das vom gängigen Verfahren, das belichtete Material in Rollen ‚abzulegen‘, abwich.

Thomas Heise beschreibt die konkreten Umstände der Entstehung beider Filme. Aus den Antworten auf verschiedene Nachfragen und den Ergänzungen von Peter Badel stellt sich die Produktionsgeschichte folgendermaßen dar. Thomas Heise, der sich damals in einer „wirklich beschissenen Situation“ befand, hatte die absurde Idee, der staatlichen Filmdokumentation ein Projekt mit dem Titel „Wie redet der Staat mit seinen Bürgern“ vorzuschlagen, um dadurch arbeiten zu können und an Filmmaterial zu kommen. Sich im Orwell-Jahr 1984 die Verwaltung anzuschauen, war die Idee; vor allem habe ihn beim Dreh von Das Haus (man weiß nie, wofür man das später noch brauchen kann“) jedoch interessiert, wo die toten Winkel der Überwachungskameras auf dem Alexanderplatz seien. Mit der Volkspolizei war hingegen noch eine Rechnung offen: „dann hat man die andere Seite mal gesehen“. Eigentlich habe er etwas über die Gründe einer früheren Verhaftung herausfinden wollen. Gelungen ist ihm das jedoch nicht. Heise weist auf einen „Kompromiss“ im Film hin: bestimmte Bereiche der Institutionen bleiben systematisch ausgespart; im Haus fehle beispielsweise die Darstellung einer halbe Etage…

Durch die nichtvorhandene Planung innerhalb der Filmdokumentation sei, trotz schlechter Filmausrüstung ( der die DEFA-Bedingungen gewohnte Badel bezeichnet den Wechsel von 35mm auf 16mm und das Fehlen eines Teams (Ton, Licht) als Absturz ), ein Freiraum für ihrer Arbeit entstanden, der utopisch war. Von höchster Stelle durch einen Trick gedeckt, wäre bei den Gefilmten der Eindruck entstanden, die Verwaltung werde gecheckt oder es handele sich beim Filmteam um eine Sondereinheit zur Überprüfung der Polizei (wobei es vor Drehbeginn die Zusage gab, dass etwaige Verletzungen von Dienstvorschriften nicht verfolgt werden). Erst am vierten Tage, nachdem sie bereits Zugang zur Waffenkammer (eine Tabzone) bekommen und den Zeitvertreib der Polizisten, Funksprüche und die Aussagen eines verhafteten Punks in der Gefängniszelle (ebenfalls Tabuzone) aufgenommen hatten, wurden ihre Personalien überprüft und das Verhalten der Polizisten änderte sich: es gab nur noch Stadtrundfahrten, aber keine Einblicke mehr in den tatsächlichen Arbeitsablauf und den „kleinkriminellen Blödsinn“, mit denen die Volkspolizei beschäftigt war.

Für Volkspolizei, habe er, so Heise, nachdem klar war, dass die Filmdokumentation wegen Unterschlagung geschlossen werden würde und nur noch ein Film möglich sei, auf einem offiziellen Briefbogen mit Angabe seiner privaten Telefonnummer (zum Telefon erzählte er auch die dazugehörige Geschichte) beim entsprechenden Ministerium um Dreherlaubnis nachgesucht. Die Zustimmung des Oberstleutnants („alles wurde telefonisch durchgestellt“) beschreibt Heise als lustige Anekdote („Charme der Diktatur“) und führt seinen Wagemut gleichzeitig auf seine fatalistische Haltung zurück.

Im Laufe der Diskussion beschreiben Thomas Heise und Peter Badel noch ein anderes Projekt: Sie sind schwarz Taxi gefahren, jedoch nicht, um ( wie viele andere ) Geld zu verdienen, sondern um mit den Leuten Gespräche zu führen.

Zur Frage nach der Abnahmen der Filme erzählt Thomas Heise, wie er heimlich aus dem Vorführraum mitgelauscht habe. „Zum aus dem Fenster schmeißen“ so der Kommentar der zuständigen Personen. Logischerweise gebe es keinen schriftlichen Nachweis über die Filme, sonst wäre herausgekommen, was die staatliche Filmdokumentation da finanziert habe. Immerhin: der Leiter des Filmarchivs legte die Filme in den Schrank, wodurch sie zwar verschwanden, die Filme jedoch gleichzeitig auch gesichert wurden ( im Gegensatz zu manch‘ anderem vernichteten Film). Detlef Kannapin nennt im Gespräch mit Thomas Heise einige Filme mit ähnlichem Schicksal und weist darauf hin, dass Filme in der DDR offiziell nie aus politischen sondern immer aus ästhetischen Gründen nicht zur Aufführung kamen. Bemängelt wurde bei der Abnahme u.a. die Auswahl der Personen, wobei Thomas Heise klarstellt, dass es sich um einen Querschnitt der Ereignisse und damit „konkrete Realität“ handele. Aber: in der DDR sei es um die objektive Wahrheit gegangen, Zufälligkeiten, von denen der Film geprägt sei, durfte es nicht geben.

Vrääth Öhner zieht Vergleiche mit den Dokumentarfilmen von Wiseman und Fernsehdokumentationen und bezeichnet die Filme als Briefe an die Zukunft. Thomas Heise berichtet, dass er damals ganz direkt notieren wollte, was sonst nicht vorkommt. Es ging also um eine Art Gegenöffentlichkeit [da haben wir es wieder, das diesjährige Duisburger Thema]. Nicht sich selbst, sondern die Zeit wollte er verbreiten. Es ging nicht um Kunst oder darum, ob die Filme je zur Aufführung kommen. Er habe sich lediglich vorgestellt, wie jemand in Vorbereitung der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der DDR im Archiv auf diese Dokumente stoße… Diese Vorstellung vom Filmmaterial als Schläfer gefällt Werner Ruzicka sehr, der mehr über die Reaktionen der Menschen wissen wollte, die gefilmt wurden. Niemand habe sich gewehrt und er habe sich damals auch nicht gewundert, dass es keinen Einspruch gebe, so Heise. Die Bürger hätten sich (im Gegensatz zu den Polizisten ) kaum für die Kamera verhalten.

Peter Badel und Thomas Heise nennen im Gespräch unterschiedliche Vorbilder, die ihre Arbeit geprägt haben. Während Badel die Arbeiten von Wildenhahn und Böttcher nennt und sich von den anti-realistischen Tendenzen bei der DEFA abgrenzt (Detlef Kannapin bestätigt: die DEFA habe sich in einer ästhetischen Krise befunden), verweist Heise auf die Sendungen der westdeutschen Dritten Programme (Kluge usw.) und formuliert im Verlauf der Diskussion mehrfach programmatisch, dass er wieder auf diese „Spur“ zurückkommen möchte. Nicht um die Formsprache („jeder Student kann das inzwischen besser als wir“) gehe es, sondern ob einen etwas wirklich betrifft. Und: heute ist vieles verloren gegangen. Badel führt das u.a. auf die Produktionsbedingungen (kaum Zeit für Recherche) zurück.

Nach der Bearbeitung und dem aktuellen Seherlebnis befragt, geht Thomas Heise auf die Verbesserung des Tons ein. Er hat sich jedoch gegen Änderungen entschieden [hier schließt sich der Kreis zu Hito Seyerls Filmdokumente], auch wenn es in den Filmen Rhythmusprobleme gebe: „es war damals so“. Sein Interesse an den alten Filmen beschreibt er besonders mit Blick auf die formalen Aspekte. Jutta Doberstein fragt, was es bedeute, wenn die Filme unter dem Titel „Das Filmdokument“ von SFB gezeigt werden. Das passe gut ins BRD-Bild von der funktionsuntüchtigen DDR, kritisiert ein Diskutant. Nein, nein, erwidert ein Verantwortlicher des Sender. Die Westberliner (!) hätten ja keine Ahnung gehabt… Man wolle keine ironischen Blick auf die DDR werfen, sondern habe Interesse am Alltag. Auch in Westdeutschland habe es, siehe Panorama, im übrigen kaum Alltagsdarstellungen in „unverstellter Form“ gegeben [da, so der besserwisserische Einwurf der Protokollantin, erinnert der Herr allerdings die bundesdeutsche Fernsehgeschichte nicht ganz richtig]. Jutta Dobersteins Hinweis auf die Videos von Bürgerversammlungen in der DDR, die im Gegensatz zu Heises Filmen nicht im Fernsehen gezeigt werden, greift er als guten Vorschlag auf. Man könne ja alte Anti-AKW-Videos ausstrahlen, macht er einen lustigen Witz, das habe den Vorteil, deutlich billiger zu sein als die Rekonstruktion von Filmdokumenten.

Dass es noch weitere filmische Gegenbilder gab, die sich künstlerischen außerhalb des Rahmens der DDR bewegt haben, wirft Detlef Kannapin zwischendurch noch ein [Buch + Videocassette unter dem Titel Gegenbilder ist im Buchhandel erhältlich]. Ansonsten ist noch viel über die Haltung der DDR-Bürger zur Staatsmacht, zum Wohnungsbauprogramm sowie Anekdotisches zum Funktionieren des Staates zu erfahren. Was er von der Heiterkeit des vorwiegend westdeutschen Publikums halte, will ein Diskutant abschließend wissen. Thomas Heise bekennt: „ich lache auch herzlich, vieles ist ja auch komisch“. Wenn man sich alte Sendungen des österreichischen Fernsehens anschauen würde, wäre das ebenso lustig, stellt Vrääth Öhner fest und fragt ketzerisch: „wo ist der Unterschied?“