Extra

Wie Wirklichkeit erzählen (III)

Duisburger Filmwoche 22
1998

Podium: Michael Glawogger (Filmemacher, Wien), Thomas Koebner (Johannes Gutenberg-Universität, Mainz), Horst Königstein (Kunsthochschule für Medien, Köln), Carl-Ludwig Rettinger (LichtBlick, Köln), Andres Veiel (Filmemacher, Berlin)
Moderation: Werner Ružička, Volker Heise
Protokoll: Torsten Alisch

Protokoll

Die Möglichkeiten der neuen digitalen Medien machen statt rein linearer, neue Arten des Erzählens möglich – aber nicht notwendig: Auch weiterhin läßt sich Wirklichkeit inszenieren, hervorholen oder auch verdecken. Das war das Ergebnis des gestrigen EXTRAs. Doku-Drama und Docu-Soap standen heute im Mittelpunkt: zwei Begriffe, deren beliebige Verwendung in dieser Diskussion eine vorherige klare Definition – auch und gerade für die Macher im Auditorium – hätte sinnvoll erscheinen lassen.

Thomas Koebner verwies auf die dokumentarischen Reportagen von Troeller und Fechner als besonders prägend für seine Generation. Dramaturgie sei gar nicht so wichtig, weil sich Geschichte in Linearität ereigne. Es geht ihm um das Aufdecken von Zuständen, die man nicht sehen will, um das Zulassen & Eingestehen von Widersprüchen, um eine Auseinandersetzung mit dem Fremden. Filmische Arbeit ließe sich nicht an historischer Wahrheit & Vollkommenheit meßen …

Michael Glawogger sprach von einer altmodischer Polarisierung, die sich in Diskussionen zu seinem Film Megacities offenbarte: Die Frage der Inszenierung ist keine Grenzfrage mehr. Zur Zeit herrsche doch geradezu eine Hochzeit des Dokumentarfilms: Noch nie gab es so viel gutes Filmmaterial so billig und noch nie gab es so viele Freiheiten, die Wirklichkeit unbeeinflußt aufzunehmen. Das Problem liegt in der Gestaltung (der Wirklichkeit & des Films). Wenn man nur genau hinschaut, ist schon der allererste über 100 Jahre alte „Dokumentar“-Film Arbeiter verlassen die Fabrik ein Image-Film des Fabrikbesitzers Lumière, der seine Arbeiter in Sonntagskleidung aus den Fabriktoren herausspazieren läßt. Auf die Genauigkeit der Gestaltung beharren und sich immer zwei Fragen stellen:

Wem gehört der Film? und Wem gehört die Wirklichkeit?

Die erste Frage erscheine vielen überflüssig, durch die absolute Verfügbarkeit des Mediums Video (billig und einfach zu bedienen) sucht kaum noch jemand nach adäquater filmischer Form im Dokumentarfilm. Aber bildet das billigste Medium die Wirklichkeit auch am besten ab? Das Nicht-Fragen nach Besitzverhältnissen führe zu einer filmischen Flucht ins Private und den Alltag. Es werde immer schwieriger, heutzutage eine Institution oder eine Fabrik zu filmen. Auch sollten filmische Formen, die von Werbung oder MTV vereinnahmt erscheinen – wie das absolute Aussaugen des amerikanischen Experimentalfilms – im Blick behalten und auf das ihnen innewohnende Ideenpotential geprüft werden.

Carl-Ludwig Rettinger erwartet von Leuten wie Rothschild (gestern) und Koebner (heute) eine professionellere Terminologie: Wirklichkeit zeigen sei was anderes als Wirklichkeit erzählen. Am Beispiel des narrativen Dokumentarfilms Pfadfinder, der für ihn eine klassische Initiationsgeschichte erzählt (was passiert auf der Heroes‘ Journey; die äußere & innere Entwicklung des Protagonisten fallen zusammen), erklärt Rettinger: Beim Spielfilm könne er das Buch umschreiben, hier hätte er wirklich mit dem Charakter Norbert zusammengearbeitet, hätte ihn gerne inszeniert. So werde Norbert nur zu einer Charaktermaske.

Docu-Soaps, das Reiz-/Stich-Wort dieses Nachmittags, wird von Rettinger benannt: Nicht jammern, daß im Fernsehen der abendfüllende Dokumentarfilm verschwindet, sondern gucken, warum er verschwindet. Schließlich sind nicht böswillige Intendanten sondern die veränderte Rezeption der Zuschauer Grund für die Reduktion dieser Sendeplätze: Wenn 2/3 des Publikums zappt, funktionieren 100-minütige Filme in diesem Medium einfach nicht mehr. Neue Sendelängen und neue Fernsehformen werden nötig und sind gewünscht. Docu-Soap als Form des kleinteiligen Erzählens, aber dokumentarisch organisiert: Die Charaktere sind das Entscheidende; das Nicht-Zurückgreifen auf Geschehnisse in vorherigen Folgen; und eine Prise Humor. Dieses Genre ist bisher kaum entwickelt und wirkliche Docu-Soaps waren in Deutschland noch gar nicht zu sehen (allenfalls Real World auf MTV). In England erreichen Vets (Serie über/ mit Tierärzten) oder Driving School Einschaltquoten bis zu 50%. Rettinger entwickelt zur Zeit für ARTE verschiedene Docu-Soap-Projekte.

Andres Veiel ignorierte die von Rettinger formulierten Aspekte mit der bekannten These von Widersprüchen, die im Film entwickelt werden müssen: Docu-Soaps böten ihm dazu keine Möglichkeiten. Sein Weg geht ins Kino, und diesen Weg will er offensiv verteidigen:: Platz für Nischenfilme finden und im Kino die Sichtweisen von Fernsehredakteuren öffnen/ändern … Veiel referierte über seine Arbeit, die sich – vom Theater inspiriert – um die dokumentarische Inszenierung seiner Protagonisten dreht; eine Inszenierung, die im Dokumentarfilm viel genauer als im Spielfilm sein müsse, weil sonst der Zuschauer jegliches Vertrauen in den Film verlieren würde; über innere Wahrheiten eines Protagonisten, die man herausfinden und einkreisen müsse: bis an die Grenzen gehen & sie (vielleicht) überschreiten; über das Bewahren von Aura und Geheimnissen; über moralische Verantwortung, daß der Protagonist nicht zu viel oder das Falsche preisgäbe; über ethische Grenzen, die man nicht überschreiten dürfe …

(Der gerade eingetroffene) Horst Königstein will von Stück zu Stück das Genre neu ausdefinieren. Er und Breloer seien geprägt von der Auseinandersetzung mit Klaus Wildenhahns (fast 20 Jahre zurückliegenden) Schriften Vom dokumentarischen zum synthetischen Film. Königstein referierte noch einmal die Entstehungsgeschichte des 70er-Jahre-Films Hamburger Gift, und sprach in einer Terminologie, die in dieser Zeit wurzelt.

—— Fragen & Thesen & Antworten —–

Doku-Dramen wie Das Todesspiel sollten hier & heute eher als Büchsenöffner verstanden werden, die ein Publikumsinteresse an bestimmten Themen schaffen und die anregen sollen/ müssen, sich danach selbst mit diesen Themen intensiver zu beschäftigen, meinte Koebner. So wie es die amerikanische TV-Serie Holocaust Ende der 70er Jahre schaffte, eine in Deutschland über 30 Jahre nicht geführte Diskussion in Gang zu setzen – Dokumentarfilme also nicht nur als abgeschlossenes Werk, sondern darüberhinaus vielleicht auch in ihrer gesellschaftlichen Wirkung betrachten und (neu) bewerten.

Die zentrale Fragen jeder Medien-Produktion:

Gibt es für das Thema ein Publikum? Wieviel & welches?

Horst Königsteins Definition von Docu-Soap als Synonym für Langzeitbeobachtung verwandelte diesen im Auditorium verteufelten Begriff zum Wunsch alt(link)er Dokfilmer: Menschen in serieller Form begleiten und filmische Tagebücher schaffen. Und sowenig sich ein traditioneller Dokumentarfilm in Alleinarbeit realisieren läßt, sowenig ist natürlich auch eine Docu-Soap als puristisches Autorenwerk denkbar.

Docu-Soaps sind für Carl-Ludwig Rettinger gleichbedeutend mit radikalem Erzählen:

Nicht die Welt erklären oder gute & böse Weltanschauungen bewerten

oder Richtig & Falsch zeigen (wollen)

– wie es hier in Duisburg seit über 20 Jahren bis heute vorherrscht.

Unsere Wirklichkeitserfahrung ist von medialer Erfahrung durchsetzt & geschult, sagt Rettinger.

Jedes (filmische) Werk, das heute entsteht, müßte sich eigentlich dieser Tatsache stellen und auch in diesem Bewußtsein produziert sein.