Protokoll
Wie wird Wirklichkeit erzählt? Wie läßt sich Zeit darstellen? Werden Entscheidungen schon durch den Kamerablick getroffen? Entscheidet sich die Dramaturgie eines Dokumentarfilms am Schneidetisch? Was könnte die digitale Postproduktion leisten? Fragen, die an diesem Nachmittag im Mittelpunkt standen, bzw. stehen sollten …
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Thomas Rothschild, „alter Freund der Filmwoche“ (Volker Heise), durfte zu Beginn seine Analyse des (tags zuvor präsentierten) Films Do Sanh – der letzte Film vortragen. „Weil Filmemacher gerne zum Verabsolutieren ihrer eigenen Haltung zum Film neigen“, erzählte uns Rothschild nicht, wie dieser Film sein sollte, sondern wie er IST. Nichts Neues wolle er sagen, sondern in Struktur bringen, was jedem auffallen kann. Volker Heises Einführungssatz „Wirkliche Geschichten unterwerfen sich bekanntlich nicht der Dramaturgie“, erweiterte Rothschild: Wirkliche Geschichten lassen sich mittels dramaturgischer Regeln in filmische Formen bringen. Bestimmte Sujets fallen dabei in Bereiche des Spielfilms, andere gehören zum dokumentarischen Feld. Das melodramatische Klischee des Lachens unter Tränen eignet sich für eine LoveStory, in der die Liebe den eigenen Tod unbeantwortet überlebt, ebenso wie für eine Aids-Dokumentation.
In Do Sanh hat sich der Macher gegen eine Chronologie und für eine Kompilation entschieden. Diese nun fertiggestellte Langzeitdokumentation, die so im ersten Film von 1970 nicht angelegt war, zeigt eine Lebensgeschichte, die von ihrem Ende her aufgerollt wird. Hans-Dieter Grabe benutzt altes Filmmaterial, ergänzt um einen neuen Kommentar: Zu den Bildern des kleinen, verletzten Jungen Do Sanh erzählt Grabe, was er erst Jahre später erfahren hat, bzw. was Jahre später geschehen ist. Immer wieder springt der Film um Jahre vor und zurück, eine Durchbrechung der Chronologie: Ein Zeitgefühl, das einer Spannungs-Dramaturgie diametral entgegengesetzt ist.
Grabe zeigt eine Geschichte des Leidens und des Widerstands gegen das Leiden und macht deutlich, daß dieses Leiden kein Schicksal ist sondern konkrete Verursacher hat. Grabe zwingt zum genauen Hinschauen, er wollte schon im ersten Do Sanh-Film keine Werbung für irgendeine caritative Hilfsorganisation machen.
Do Sanhs Frau dreht am Ende des Films die Antriebskurbel ihres Fahrrad-Rollstuhls wie die Kurbel einer antiquierten Filmkamera. Der Videobrief, in dem Do Sanh das Nicht-Zeigen seiner Aids-Erkrankung fordert, verweist auf eine Zeigeverbot, das aber eindringlicher ist als es jedes Zeigen sein könnte.
Protagonisten im Film müssen als Individuen hinreichend interessant sein. Der Dokumentarfilm kann sich auch bisher unbekannte Individuen zu Protagonisten wählen. Ausschlaggebend sei die Frage, ob das Schicksal dieser Person(en) einen Höhepunkt hat. In Deutschland etwa haben alle Opfer & Täter des Nationalsozialismus zumindest einen dramatischen Höhepunkt im Leben.
Do Sanh zeigt Menschen, die etwas erzählen. Die gezeigte Erzählung ist eine Wirklichkeit, aber nicht notwendigerweise auch die Wahrheit – so hat die Figur Do Sanh uns Zuschauer wahrscheinlich bezüglich ihres Drogenkonsums belogen …
Eine andere Dramaturgie des Films wäre möglich, aber diese gewählte ist überzeugend, so Rothschild: Volker Koepp etwa hat sich in seinem letztjährigen Wittstock, Wittstock für kollektive Protagonisten entschieden (auch aus ideologischem Hintergrund) und gegen die bürgerliche Perspektive vom Individuum als freier und selbstbestimmter Einheit.
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Nurith Aviv referierte ihre Fragen und Sichtweisen, die sich während ihrer Arbeit als Kamerafrau ergeben: Wie verhält man sich zu Wissen und Nicht-Wissen, wenn man Bilder macht? Mit der Kamera steht man genau zwischen diesen beiden Polen. Heimlich ist das, was man kennt. Unheimlich ist das, was man (noch) nicht kennt, und vielleicht auch das, was keiner erwartet. Dem Unerwarteten erlauben, zu erscheinen – das kann nur ein Kameramann, der ohne festgelegten Stil arbeitet. Kameramänner mit Stil arbeiten nur mit dem Bekannten, zeigen also auch nur das, was man schon kennt.
Wie filmt man Stillstand? Was macht man mit dem, was nicht im Bild ist? Wo schneide ich jemanden aus dem Bild ab/heraus? Dies sind einige der Fragen, die sich Nurith Aviv während der Arbeit stellt. Manchmal wird sie so zu diskreter Co-Autorin eines Films, aber Ideen kommen ihr erst während der Arbeit an dem konkreten Thema – sich auf andere und Situationen einlassen, sich einfühlen, Un(ter)bewußtes und das Nicht-Wissen zulassen. Ich mag die Grenze, die keine ist. Ein ca. 10-minütiger Ausschnitt des ca. 20 Jahre alten Field Diary illustrierte ihre Thesen.
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George Janett, Selbstbezeichnung „Kötter“ (gibt es eigentlich einen anderen Berufsstand, der sich so gern so selbsteitel verulkt? Dem Redaktör ist nix zu schwör! Haha, wat ham wa jelacht …) hängt der These vom allmählichen Verfestigen der Gedanken beim Reden an. Er möchte an diesem Nachmittag drum-herum reden, sein Thema einkreisen, damit der Kern spürbar wird: Alle Regeln & Theorien sind Binsenwahrheiten oder Verstiegenheiten – sagt Janett und stellt dann seine Regeln vor …
Schnitt
Das Reduzieren als Schlüsselbegriff der Montagearbeit: Das „wichtigste“ Material ist vielleicht das, was man wegschmeißt – also auch die Ideen & Geschichten, die in diesem Material steckten.
Schnitt
Janetts Kötterarbeit strukturiert sich aus seinen zwei Prinzipien: Entweder die Chronik-Methode (chronologisch montieren, mit dem Risiko, daß sich Langeweile einstellt) oder die Citizen Kane- Methode (mit dem Konflikt oder dem zentralen Problem zu beginnen und das Ende des Films von Anfang an vor Augen zu haben). Filme wie Do Sanh oder Controlled Demolition seien einer Citizen Kane-Methode entsprechend geschnitten: Eine „adäquate“ Form für das, was diesen Filmen immanent ist!
Schnitt
Seine praktische Arbeit bewegt sich jeweils zur Hälfte im Spielfilm – und zur anderen Hälfte im Dokumentarfilmbereich: Dieses Hin & Her sei ungeheuer befruchtend: Dramaturgisch arbeiten und Spannungen aufbauen. Janett hat auch noch nie einen Film als „zu kurz“ empfunden.
Schnitt
Das einem Film Immanente läßt sich nur durch Arbeit, Arbeit, Arbeit herausfinden: Sich immer wieder neu auf das Material einlassen; kontrollierte Schizophrenie; Abstand & Nähe zum Material entwickeln. Produktive Arbeit im Schneideraum besteht auch aus der Auseinandersetzung und dem Aufeinanderprallen von Meinungen.
Schnitt
Ein viertelstündiges Zitieren der Weisheiten von Roland Barthes, Ludwig Wittgenstein, Eisenstein und Bunuel schloß sich an; und der Zusammenhang von Rasierklingen und Schraubenlockern als Credo der Filmarbeit …
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Wie
Wirklichkeit
erzählen?
lautete das Thema dieser nachmittäglichen Talkshow – bis dato selbstgefällig pendelnd zwischen dem Altherren-Charme Aktenzeichnen XYs und miliTANTEm Kamera-als-Waffe-Credo.
Der kurze abschließende Beitrag des schweizerischen Filmemachers und digitalen Postproduzenten Samir änderte das Bild: Nicht nur das vorgeführte Werk Die Befreiung des Kaders sondern vor allem Ausschnitte aus Babylon 2 und seine anschließenden Ideen und Überlegungen, die sich um Medien, Rezipienten und MacherInnen drehten, ließen im eigenen Kopf endlich wieder eine Lust auf zukünftige („dokumentarische“?) Bild-&Ton-&Schrift-Produktionen aufflammen. Digitale Film-Video-Ton-Produkte, die Reflexionen über das in ihnen verwendete Material spielerisch beinhalten. Dokumentarische Formen, die die individuell unterschiedliche Aufnahmefähigkeit und -lust (auf Seiten der Rezipienten) berücksichtigen und/ oder diese vorantreiben: Die von Janett geforderte kontrollierte Schizophrenie nicht an der Ausgangstür des Schneideraums abgeben, sondern diese Wahrnehmungsweise auf die eigene Welt richten – etwa auf die Geschlossene Dokumentarfilm-Anstalt Duisburg im Jahre 1998, wo der Horizont zukünftiger Medienentwicklungen bei der CD-Rom endet. Ungläubiges Staunen herrscht im Saal, als Samir so etwas wie eine Babylon 2 – DVD (Digital Video Disc, die etwa das 100-fache einer normalen CD-Rom speichern kann) erwähnt, auf der sich Filmausschnitte bis hin zu den einzelnen Plansequenzen des Rohmaterials zurückverfolgen, auswählen und ansehen ließen.
Damit war die Zeit dieses Nachmittags abgelaufen. Eine nicht gelungene Dramaturgie dieser Veranstaltung …