Film

Ghetto
von Thomas Imbach
CH 1997 | 118 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 21
11.11.1997

Diskussion
Podium: Thomas Imbach
Moderation: Jutta Doberstein
Protokoll: Niko Ruhe

Protokoll

Zur sozialen Herkunft seiner jungen Protagonisten gab der Film keine weitere Auskunft- und daß hier etwas in der Schwebe gehalten wurde, gefiel Moderatorin Jutta Doberstein. Tatsächlich kamen Xhumi, Müke und ihre Freunde von der reichen Zürcher Goldküste, wo das „Gestopfte und Verwöhnte“ der Schweizer Wohlstandsgesellschaft besonders satt sitzt. Davon abgesehen, so Thomas Imbach, kann man dort auch einfach besonders schöne Bilder machen.

Auch Thomas Imbach wollte zunächst nicht wissen, wo die „Kids“ herkommen. Er hat in den Klassenzimmern, die er besucht hat, zunächst nur auf den äußeren Eindruck seiner potentiellen Protagonisten geachtet. Wenn sich jemand produziert oder ängstlich verschließt, sieht er das sofort, und am liebsten sind ihm die, die einfach nur „bei sich selber bleiben“. Letztlich spiele bei seinen Castings die persönliche Chemie die entscheidende Rolle, auch seine eigenen Erinnerungen an seine Zeit mit 16 – und was er sich mit 16 zu kennen gewünscht hätte.

Einen biographischen Anspruch hatte er nicht: Xhumi, Müke und ihre Freunde waren für ihn Darsteller, nicht Figuren, die er porträtiert, um ihnen gerecht zu werden. Daher hat er ihnen auch Gagen von je etwa 1000 Stutz gezahlt – allerdings ohne vorherige Absprache erst am Ende, sonst hätten „die nur noch den Tausender vor Augen gehabt“.

Am Anfang haben sie ihn, zumal er sie mit so wenig Materialaufwand begleitete, nicht besonders ernst genommen, was ihm aber nicht unlieb war. Nun jedoch läuft der Film seit sieben Wochen in Zürich im Kino, und seine Protagonisten genießen es, sich im Rampenlicht zu sehen.

Seine Protagonisten drehte er meist auf Video – für ihn kein eigentlich photographisches Medium, insofern es nur Flächen, nicht aber Räume zeigt. Mit diesen Bildern des Nahen kontrastieren in ihrer räumlichen Tiefenwirkung die Landschaftsbilder in 35mm („auch ein Versuch, Techno zu bebildern“, sagte Imbach).

120 Stunden Material hatte der Regisseur schließlich gejagt und gesammelt Während des Drehens war keine Zeit für Protokolle oder ähnliches, und so war er nach Drehschluß zunächst damit beschäftigt, sein Material kennenzulernen. Er hat Prints von ihn interessierenden Bildern mit kurzen Dialogen versehen und in Karteikästen geordnet unter zwei- bis dreihundert Stichworten – so bekam er das Material allmählich in den Kopf.

Diese „Atomisierung“ des Materials war ihm auch hilfreich, um „von der Chronologie wegzukommen“. Im übrigen hatte er sich auf die Atomisierung schon „festgelegt, indem er mit seiner Videokamera körperlich sehr nahe an seine Protagonisten heranging. Insgesamt wollte er „so filmen, daß sich kein Naturalismus einstellen kann“.

Mit dem Ergebnis des Atomisierens und Remontierens gab es im Publikum auch Unzufriedenheit. Fast ein Moment der Verklärung, hatte eine Frau gespürt: Das Material sei hier so verwendet, daß fast schon Geschichten entstehen, etwa die angedeutete Möglichkeit einer Liebesgeschichte zwischen Müke und seiner Lehrerin. Etwas skeptisch sei sie geworden gegen Imbachs, wie er sagte, „Bauen neuer Häuser“ aus zuvor atomisiertem Material.

„Also ‚tendenziöse Montage’“ versuchte Imbach den Vorwurf gegen sich zu präzisieren. „Wenn, dann würde der Film nicht funktionieren“: Die Eisensteinsche Konzeption, „man könne da was basteln“, funktioniert nicht bei diesem Material. Man kann hier nur etwas verstärken, was angelegt ist, angelegte Strukturen dramatisieren.

Die Kapiteleinteilung- „Techno, Ghetto, Sex, Drugs, Maroni“, die sich allmählich entwickelt hat, solle im übrigen nicht überbewertet werden. Sie war vor allem auch ihm selbst eine Hilfe, sein Material zu ordnen – soll aber ansonsten nur „ein Minimum an logischer Struktur“ darstellen.

Die Kapitel sollen als etwas letztlich Äußerliches jedenfalls weder Jutta Doberstein noch sonst jemanden hindern, nach der Tagung des vergangenen Wochenendes die „eigentlichen Punkte“ im Film woanders zu sehen: In den Aspekten der Arbeitssuche, des Erwachsenwerdens, der Übernahme von Rollen, der „Zielstrebigkeit der Verweigerung“ – und darin, wie die Protagonisten jetzt erst allmählich (erwachsen) zu sprechen lernen.

Um zu lebhafterer Diskussion, weiterer inhaltlicher Analyse Anlaß geben zu können, war der Film möglicherweise (in zunächst nicht negativem Sinn) zu sympathisch distanzlos an seinen Protagonisten, zu sehr schöne und interessante Formen nur beobachtend. Historischen und entwicklungspsychologischen Perspektiven, wie sie von Jutta Doberstein angeregt wurden, und auch kritischen Perspektiven gab Imbachs Ordnung des Materials, „so daß es von innen heraus lebt“, keine einfachen Orientierungspunkte.

 Marcel Ophüls © Ekko von Schwichow
Marcel Ophüls © Ekko von Schwichow