Protokoll
Xinru Nie war 14 Jahre jung als die Kulturrevolution über China rollte, und er macht deutlich, daß es auch ein wesentlicher Teil seiner Jugend ist, auf den er sich mit seiner Diplomarbeit an der Kölner Kunsthochschule für Medien nun fast zwei Jahrzehnte später zurückwendet. In das Zentrum seines Films stellt er nicht das staubige Wort der Ideologie oder die zerstörerische politische Tat der Jugendrevolution, sondern eines ihrer sinnlicheren Momente: Die Tänze der jungen Rotgardisten. Die meisten Filmstudios, erzählt Xinru Nie, wurden in der Revolutionszeit geschlossen, und Filmmaterial war fast ausschließlich für die politische Propaganda reserviert: So lieg.t es nicht nur am Wunsch der Mächtigen, diese Zeit in Vergessenheit zu bringen, daß die heute jungen Chinesen – unter ihnen die meisten der in Deutschland lebenden Chinesen – bisher kaum etwas von diesem ästhetischen und emotionalen Aspekt der Jugend ihrer Eitern gesehen haben. Ob die Distanz zwischen den Generationen der zwischen den deutschen 68ern und ihren Kindern vergleichbar sei, wisse er nicht, sagte Xinru Nie: Aber groß sei sie in jedem Fall. Um die Weit der Rotgardisten auch für ihre Kinder wieder sinnlich erfahrbar zu machen, kehrte Xinru Nie daher nach China zurück, um dort die alten Tänze neu inszenieren zu lassen, von jungen Chinesen unter der Leitung eines ehemaligen Kulturrevolutionärs. Schreiben über die Kulturrevolution sei heute kein Problem mehr, sagte Xinru Nie, aber hören und sehen wollte man sie immer noch nicht. Zwar gebe es keine „Regel“, die es verböte, über dieses Thema zu drehen, aber Xinru Nie hatte keine Zeit, lange auf eine offizielle Verweigerung der Drehgenehmigung zu warten. So drehte er schließlich ohne, und glaubt auch nicht, daß sein Film in China gezeigt werden könnte: Dies blieb schon mehreren Filme zu diesem Thema versagt, obwohl sie in Europa und Japan Preise erhielten. Im übrigen hätten auch die wenigen, die er nach langen Monaten der Suche schließlich zur Mitarbeit an seinem Projekt bewegen konnte, den Auftritt vor der Kamera verweigert, wenn der Film zur Aufführung in China bestimmt gewesen wäre.
Was nach offiziellen chinesischen Standards möglicherweise bereits zuviel Kritik ist, war im Duisburger Publikum manchem zu wenig. „Eine schöne Reminiszenz für jeden, der damals in einer K-Gruppe für die Kulturrevolution eingestanden ist“, fand Didi Danquart, vermißte aber die vertiefende Auseinandersetzung damit, was die Kulturrevolution politisch bedeutet habe: „Ziemlich viel planiert und kaputtgemacht“ habe sie schließlich, insbesondere die kritische Intelligenz. Auch von anderer Seite hieß es, das Gewaltpotential der Kulturrevolution würde nicht thematisiert, und damit käme die Kulturrevolution zu gut weg. Auch heute noch würden die im Film auftretenden ehemaligen Mitglieder der Propagandagruppen „sehr verschlüsselt“ sprechen; daß etwa die Repression gegen private Liebesbeziehungen „bis zur physischen Vernichtung“ ging, sei im Film nicht deutlich geworden, gab Alfredo Knuchel zu bedenken. „Mehr Klarheit“ hätte er sich gewünscht, die Kulturrevolution sei in China „keine Popkultur, sondern effiziente Politik“ gewesen: „So ist doch die Realität“.
„Ja, stimmt“, sagte Xinru Nie. Wenn man lange Erklärungen gibt, wird der Film zu lang, und andererseits: erklärt man nichts, versteht man nichts – dies sei auch sein Problem gewesen. Und in Reaktion auf Didi Danquarts Kritik: „100 Themen“ könnten Filme über die Kulturrevolution hoben. Viele seien aber schon behandelt worden, und er habe nicht noch einmal tiefgehen wollen, wo andere bereits tiefgegangen sind („Was hier manchmal vermißt wird, ist das, was die, die es vermissen, bereits zu wissen meinen“, hieß es später sehr kritisch aus dem Publikum). Tanz und Musik der Rotgardisten seien nie gezeigt worden, und in diesen habe er das Typische der Zeit zeigen wollen – und darauf habe er sich konzentrieren müssen.
Ob man es sich nicht etwas einfach mache mit der Forderung, alles klar und offen auszusprechen, fragte eine Zuschauerin: Sie fand die Offenheit und Lockerheit der Shanghaier Theaterwissenschaftlerin bereits bemerkenswert genug, und die Distanz, die die Kinder in ihren Tänzen zum Gefühl der Revolutionszeit zeigten, sage bereits sehr viel. In einem ähnlichen Sinn hatte ein anderer Zuschauer bereits bemerkt, wie spannend es zu sehen sei, welche Schwierigkeiten die Kinder bei der Reproduktion der alten Tanzbewegungen haben (was im Publikum auch als „Scheitern der körperlichen Aneignung von Geschichte“ aufgefaßt wurde). Die Auseinandersetzung mit der Geschichte kranke vielfach daran, daß man sie rein verbal angehe, nicht aber visuell. In Bezug auf die Kritik an der mangelnden inhaltlichen Auseinandersetzung verwies er auf die Form des Films, die der Vielzahl verbaler Ereignisverarbeitungen eine „wichtige archäologische Recherche“ entgegensetze, wie man sie ähnlich auch etwa für die Gebrauchsgüter der DDR unternommen habe.
„Eine kleine Hoffnung“ hätte sie, meinte eine Zuschauerin, daß der Film eine Metapher der heutigen Verhältnisse in China sei – wenn sie nämlich sähe, welche kritische Distanz zur Kulturrevolution diejenigen heute hätten, die damals dabei waren. Es wurde nicht deutlich, ob Xinru Nie die kleine Hoffnung zu groß war: Jedenfalls hätte er einfach nur diese Geschichte erzählen wollen, „was damals war“ – und aus großer Distanz habe er gucken wollen, gerade weil er mit seiner Meinung damals so beteiligt war. Mehr wollte er nicht: „Wenn man zuviel Eigenes hineintut, wird es nichts“.