Film

Kind im Speedtest
von Benno Trautmann
DE 1996 | 68 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 20
05.11.1996

Diskussion
Podium: Benno Trautmann
Moderation: Werner Ružička
Protokoll: Niko Ruhe

Protokoll

Trautmann war nicht beleidigt, als sein Redakteur ihm das Thema der Langsamkeit mit der Bemerkung vorschlug, es passe zu ihm: Man könne Langsamkeit auch positiv auffassen, entgegen der gesellschaftlich derzeit vorherrschenden Auffassung. „Kein Typ der Theorie“ und des abstrakten Zugangs, fand er seinen Einstieg in das Thema über eine Nachricht in einer Berliner Zeitung: „Kind zur Psychiatrie geschleppt wegen Langsamkeit – da bin ich sofort hingerannt“. Trautmann kam seine ganze Kindheit in Erinnerung. Genau so langsam wie das Kind sei er gewesen und deswegen sei er auch heule Dokumentarfilmer: Jeden Tag pünktlich bei der Arbeit erscheinen, das sei ihm ganz unmöglich.

Überraschenderweise waren sowohl der behandelnde Psychologe als auch die Mutter des elfjährigen Lars ohne weiteres bereit, Lars´ Schwierigkeiten öffentlich zu machen: Der Arzt fühlte sich durch die Schweigepflicht offenbar nicht weiter gebunden, und die Mutter hätte sogar unbedingt vor die Kamera gewollt. Obendrein erhielt Trautmann noch die Kopie eines Gutachtens, das ein Psychologiestudent der Berliner Humboldt-Universität über Lars´ Behandlung schrieb: „Bodenlos dumm“, so Trautmann, und ausreichend, um Lars lebenslang in die Psychiatrie einweisen zu lassen. Seit vier Jahren schon nimmt die Behandlung von Lars mit wöchentlich zwei Sitzungen von je vier Stunden in seinem leben erheblichen Raum ein und ist doch Für Trautmann „reine Beutelschneiderei“. Zusätzlich zur Behandlung durch den Psychologen wird Lars noch durch einen Psychiater medikamentös behandelt.

Aus dem Publikum kam die Vermutung, daß Lars´ Mutter wie viele andere Eltern auch an ihrem Kind die Probleme behandeln läßt, für die eigentlich sie selbst der Behandlung bedürfte: Hierauf deute, daß Lars´ Mutter im Gespräch mit einer Freundin sich selbst als „Trödelliese“ bezeichne, also anzeige, daß sie unter dem Problem leide, für das sie ihren Sohn zum Arzt schickt. Tatsächlich ist die Mutter mittlerweile ebenfalls in Behandlung, wie Trautmann erzählt. Ruzicka sieht die Mutter und die von ihr veranlaßte psychologische Behandlung nicht so kritisch: Wesentliches Thema des Films ist für ihn die Synchronizität. Die Mutter will nicht, daß das Kind neben der Gesellschaft herläuft – und damit hat sie recht. Psychotherapie wertet Ruzicka als den Versuch, „Menschen aus ihrer natürlichen Zeit in die Gegenwart zu holen“.

Trautmann hingegen findet Psychiatrie „unerträglich“: Daher entwickelte er seine Erzählung auch nicht weiter, indem er dem Psychologiestudenten an die Humboldt-Uni folgte, sondern filmte das Gespräch mit der Freundin und anschließend den Karateunterricht von Lars. Das Zustandekommen und der Verlauf des Gesprächs sei einer der vielen bemerkenswert passenden Zufälle, die den Dokumentarfilmer erfreuen. Ein eben solcher Zufall auch, daß Lars in der Allee der Kosmonauten wohnt: Mitten in der Ödnis von Marzahn, wo Karate-Studios und Spielsalons wie Pilze in Massen aus dem Boden schießen -eine feindliche Umgebung, in der man Karate-Kenntnisse auch tatsächlich braucht. Ruzicka sah in dem zu Ende des Films gezeigten Karate-Unterricht von Lars eine finale „Versöhnung mit der Zeit“, hier sei Lars schließlich in Synchronie mit seiner Umgebung. Von Versöhnung keine Spur, meint man dagegen im Publikum: Hier schließe sich der Kreis, mit dem Karate-Drill kehre der Film zur Kasernenhofdisziplin seiner Anfangsszene zurück. Und auch Trautmann selbst wertet den Karateunterricht eher als ein von der Mutter initiiertes Programm, das den langsamen Lars doch noch auf die gesellschaftlichen Leistungsstandards zu trimmen versucht.

Geschwindigkeit ist für Trautmann „einfach die andere Seite der Karte der Langsamkeit“. Er erzählt von Fotos von Experimenten, bei denen im zweiten Weltkrieg Menschen in Zentrifugen regelrecht zerfetzt wurden. Und auch in Königbrück belastet man Menschen nicht nur mit den im Film gezeigten 5 G, sondern mit bis zu 9 G, der Weltrekord liegt bei 11 G. Bemerkenswert findet er die Tatsache, daß zwei der gezeigten Kandidaten für die Pilotenausbildung in der Nähe von Flugplätzen aufgewachsen sind, Armin lebe in einem Tieffluggebiet. Der Tieffluglärm während des Gesprächs mit dem Vater war allerdings Montage. Ruzicka fragt, ob auch das Gespräch Inszenierung war. Die Art, wie Vater und Sohn einander „Vorträge hielten“, fand auch Trautmann befremdlich, für sie aber war das nach eigener Auskunft der normale Umgang.

Wenig kontrovers war die Diskussion, alle schienen sich recht einig. Ein wenig erstaunlich vielleicht: Was der Film mit solcher Zurückhaltung vorführt, läßt durchaus auch andere Lesarten zu, als sie von den Diskussionsteilnehmern favorisiert wurden. Die Beschleunigung der Wirklichkeit und ihres Erlebens erschien in der Diskussion als ein Prozeß der Deformation, deformiert schienen die, die Beschleunigung vergnüglich und spannend finden oder sonst ein affirmatives Verhältnis zum Tempo haben: Es wurde selbstverständlich angenommen, daß die Kinder das Tempo nach unten korrigieren würden, ließe man sie nur gewähren. Ausgeblendet wurde etwa, daß Arm in sich nicht gegen Beschleunigung oder Geschwindigkeit entscheidet, sondern mit der Altersweisheit seiner 20 Jahre gegen die langfristige (Selbst-)Verpflichtung auf diesen Ausbildungsweg zum Piloten: Ansonsten jedoch teilt er das Interesse und die durchaus unverkrampfte Freude der jungen Jetpiloten an der maximalen Beschleunigung auf die größten menschenmöglichen Geschwindigkeiten, das maximale Tempo des Wechsels, die maximale Reizdichte. Futuristische Raserei scheint dabei nicht im Spiel zu sein: Nicht gegen die Erstarrung und um die Zerschlagung der erdrückenden Umklammerung des Alten geht es, sondern um die Erforschung der Grenzen und Möglichkeiten eines selbst und der Weit, um Dichte und Fülle des Erlebens. Ein junger Jetpilot beschreibt, wie das Bewußtsein des Jetfliegers in der Ausbildung zunächst in reflektierender Distanz hinter der vorbeirasenden Gegenwart zurückbleibt, sich dann aber in die reflexionslose Präsenz tätigen Aufgehens in der Gegenwart allmählich vorarbeitet, um in der stetigen Steigerung seiner Integrationsmöglichkeiten sich im Tosen der Komplexität schließlich die Klarheit und Ruhe eines Zukunftshorizonts von wenigen Zehntelsekunden zu eröffnen: Bei aller Nüchternheit klingt der junge Mann wie ein Mystiker, der aber die kontemplative Ruhe nicht in der unendlichen Monotonie einer totalen Präsenz sucht, sondern inmitten der rasenden Bewegung. Trautmann selbst faßt seinen Film offenbar als ein lob der Langsamkeit auf. Er hat in Duisburg geschworen, daß er niemals einen Film mit Kommentar machen wird: Vielleicht zeigt die Diskussion auch, wie sehr auch ein nachgelieferter Kommentar noch vereinseitigen kann.