Film

Ich schreibe Tagebuch
von Gerd Conradt
DE 1988 | 30 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 12
12.11.1988

Diskussion
Podium: Gerd Conradt, Andrea Seul (Darstellerin), Manfred.Schneider (Literatur- und Medienwissenschaftler, Uni Essen)
Moderation: Bärbel Schröder
Protokoll: Anne Schiwek

Protokoll

Werner Ruzicka wies darauf hin, daß drei Filme des heutigen Nachmittags (Dazwischen, Vergewaltigt, Experiment Deutsch) in dem inneren Zusammenhang stehen, Privates öffentlich zu machen.

Zu diesem Thema sprach vor dem Beginn der Diskussion Manfred Schneider von der Universität Essen.

Eine Rede über drei Illusionen

Ihm hätten die drei Filme Unbehagen bereitet, eröffnete Schneider seinen Vortrag. Die privaten Bekenntnisse seien den Darstellern zu leicht von den Lippen gegangen. Weniger der Inhalt oder die Ästhetik hätten ihm mißfallen, vielmehr der Charakter des Verhörs, des Geständnisses.

Dieser „Voyeurismus des Ohres“ geht auf historische Ursprünge zurück, die uns nicht mehr bekannt sind; die Geschichte der Geständnisse ist lang, exzessiv und von latentem Zwang bestimmt.

Im Jahre 1215 wurde die jährliche „Ohrenbeichte“ für Christen verpflichtend, Calvinisten und Puritaner hatten täglich zu beichten.

Von diesem Ursprung her ist das Tagebuch eine Observationseinrichtung; durch Selbstbeobachtung führe ich Protokoll mit dem Blick auf die Norm. Archive enthalten Unmengen solcher Protokolle.

Im 19. und 20. Jahrhundert sind es die Psychologen, die die Anomalien von Psychopathen, Verbrechern und Perversen in den Blick fassen. Das kulminiert in der Psychokultur unserer Zeit, in der das Innere unaufhörlich nach Außen gekehrt wird.

Dahinter steckt aber von den Ursprüngen her kein Erlösungsgedanke, sondern die Möglichkeit, Institutionen Wissen und Kontrolle über Individuen zu verschaffen.

Schneider sprach über drei Illusionen unserer Zeit.

  1. Die Illusion des Therapeutischen

Es gibt kaum eine Anomalie, die nicht therapeutisch behandelt werden kann. Die therapeutischen Exzesse haben zum einen die Funktion, den Außenseiter abzuschaffen und uns auf die enge Bahn der Normalität zu treiben. Zum anderen folgen jeder Anomalie hunderte von Anschlußstatimmen. die den Anormalen auf den rechten Weg des Normalen bringen.

  1. Dle Illusion des Tabus

Die Rhetorik des Tabus ist ein siamesicher Zwilling der Rhetorik des Vergessens. Jeder Journalist leitet sein Thema mit der Anklage des Vergessens ein; so sind wir ständig umringt von unaufhörlichen Mahnungen nicht zu vergessen. Auch ist jeder Journalist darauf aus, Tabus zu brechen. Tabus können aber gar nicht mehr gebrochen werden, da ohnehin unaufhörlich über sie geredet wird. (siehe die Berge der Literatur zu Fragen der Lebenshilfe). Es gibt nur das Tabu des Schweigens; geschwiegen werden darf heute nicht mehr, da wir das nicht aushalten können.

  1. Die Illusion des Authentischen

Es wird suggeriert, wir hätten die Möglichkeit, Leiden unmittelbar zu vernehmen. Die Sprache des Authentischen existiert aber nicht. Sie ist eine der größten Täuschungen, denn jedes Leiden hat bereits eine Sprache gefunden. Wir haben Angst, daß uns das „Wahre“ verloren geht, deshalb sammeln wir alles in Archiven. Die Erde leidet nicht nur unter dem Waldsterben, sondern „seufzt auch unter der Last der Museen“.

Warum schließen sich die Filmemacher diesen Massenbewegungen unserer Epoche an? Warum bilden sie nicht das ab, was noch nicht von der Literatur bereitgestellt wird? Warum wird immer wieder das gezeigt, was ohnehin jeder weiß und sieht?

Werner Ruzicka deutet das Schweigen des Publikums im Anschluß an den Vortrag als ein Schweigen im Sinne Schneiders, auch Zustimmung könne darin gelesen werden. „Schweigen kann Denken bedeuten“. Die Diskussion zum Film wird eröffnet.

Conradts Film, der für das Schulfernsehen des SJB produziert wurde und von Schulen ausgeliehen werden kann, basiert auf drei Tagebüchern von Andrea Seul. Conradt hat die Bücher in Zusammenarbeit mit Andrea und Ilka Feist (Buch) gekürzt und bearbeitet. Die Texte werden von Andrea selbst gelesen.

Andrea Seul konnte mit dem Vortrag von Schneider wenig anfangen. Sie betont, ihr gehe es in erster Linie um den Spaß beim Machen, weniger um die Erfüllung intellektueller Ansprüche. – Conradt fragt sich nach dem Vortrag, wo „denn da noch die Berechtigung zum Leben“ bleibe.so wie· Herr Schneider in die Uni gehe, sei es sein Job, Filme zu machen unter industriellen Bedingungen. „Das Fernsehen ist die Fabrik für Leute, die täglich mit Bildern zu tun haben.“ Die Arbeitsbedingungen schlagen natürlich aufs Produkt durch: sieben Tage Drehzeit, zehn Tage Schnittzeit. –  Der Redakteur sieht das Authentische des Films darin, daß Andrea zwei Sprechweisen benutze, das Hochdeutsche und den schnoddrigen Berliner Dialekt.

Kritiker, denen der Film zu positiv geraten schien, hielt Conradt entgegen, wir seien trainiert worden, das Leben traurig zu sehen. Er habe im Tagebuch viel Kraft gefunden. – Andrea selbst betont, daß es ihr um die Vermittlung von Hoffnung gehe. auch wenn alles „Scheiße“ sei. – Der Redakteur sieht gerade in der positiven Grundeinstellung die Stärke des Films.

Conradt hat den ersten Teil des Films 1984 abgedreht. Anfangs sei die Distanz zum Thema und zu Andrea noch sehr groß gewesen. Auf ein solches Thema könne man nicht einfach die Kamera draufhalten. Um das Fernsehtum zu sensibilisieren, habe er vorher kleine Porträts von jedem einzelnen gemacht, um ihnen ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie es ist, porträtiert zu werden.

Die Umsetzung ihrer Bücher in Bilder schien Andrea gelungen. Sie hätten schon einmal einen Film zusammen gemacht. Die „vibrations“ seien gut und das Vertrauen zwischen ihnen wäre auch da – sonst wäre ein solcher Film nicht denkbar. Nein, mit Bildern im Kopf schreibe sie nicht.

Stichwort „Nähe zur Person“. Es wird bezweifelt, daß der Regisseur Andrea wirklich nahe gekommen ist. Beispiel: das Thema ihrer Abtreibung sei nur ein passant mit einem Satz erwähnt worden. – Andrea (emotional): „Schwachsinn. Eine filmische Umsetzung des Themas wollte ich nicht, ein Satz darüber reicht. Beim Sprechen des Textes mußte ich heulen. Näher hätte man mir im Film nicht mehr kommen können.“ – Der Regisseur: Diese Passage sei ein wunder Punkt gewesen. Er hätte aber wegen des Zielpublikums (Schüler) nicht darauf verzichten wollen.

Der Redakteur: Ihm stelle sich inzwischen die Frage, ob es Aufgabe der Journalisten sei, den Oberen „nah“ zu zeigen, wie die Basis lebe, ob es nicht vielmehr nötig sei, der Basis zu zeigen, wie die Oberen lebten. – Eine Randbemerkung: Seine Produktionen im Schulfernsehen werden einem Lehrerbeirat vorgelegt; dieser Film ist einstimmig akzeptiert worden.

Einige Zuschauer sprachen von einem „mutigen“, „erfrischenden“ und „tollen“ Film. Er habe sehr viel mit der Berliner Jugendszene zu tun, schwimme aber trotzdem nicht im „main stream“ durch so alte hehre Begriffe wie Liebe und Treue. Einen Zeitraum von vier Jahren auf eine halbe Stunde zu reduzieren, sei schon eine Leistung. Der Film wurde wie ein Zeitraffer empfunden, trotzdem war er intensiv, blieb im Kopf hängen, hatte „Blitze“ und „Kraft“ – kurz: eine „tolle Geschichte“.