Film

Die Zeit nach dem Orkan
von Gerald Grabowski
DE 1987 | 95 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 11
12.11.1987

Diskussion
Podium: Gerald Grabowski, Hans Kutnewsky (Redaktion Kleines Fernsehspiel)
Moderation: Bärbel Schröder
Protokoll: Michael Kwella

Protokoll

Bärbel Schröder: In einer Filmszene führe Kurt den Therapeuten an der Hand – habe er auch den Filmemacher an die Hand genommen?

Gerald Grabowski: Auf eine gewisse Art und Weise ja. Kurt würde sich nicht intellektuell ausdrücken, sondern auf einer emotionalen Ebene, auf die man sich einlassen müsse, wolle man mit ihm in wirklichen Kontakt kommen. Dies sei schwierig, da Kurt stets viel vorgebe, die Beziehung zu ihm darüber äußerst intensiv werde und man sich dabei immer wieder neu einbringen und abgrenzen müsse.

Das Gros der Dokumentarfilme beschäftige sich mit aktuellen Geschehnissen im (in weitestem Sinne) politischen Bereich. Für ihn gebe es jedoch auch andere aktuelle Bereiche – etwa die Innenwelt. Da Kurt sich anders als andere Menschen ausdrücke, wäre sein Anspruch als Filmemacher gewesen, auf die Ausdrucksformen von Kurt einzugehen und sie visuell umzusetzen.

Eine Zuschauerin empfand den Anfang des Films – z.B. die Darstellung der Psychose in Form bizarrer Gestalten – als zu reißerisch. Wie sei Grabowski darauf gekommen? Seien das Kurts Bilder?

Gerald Grabowski: Er wisse, es sei eine Gefahr dieses Films, zu viel mit Dramaturgie umzugehen, etwas „draufzusetzen“, etwa die Musik, die er mittlerweile als zu viel empfände. Heute würde er das Reißerische, Überzogene mindern. Die Darstellung der Psychose gehe indirekt schon auf Kurt zurück: der habe unbedingt den Karneval in Venedig erleben wollen. Die Ärzte wären einverstanden gewesen, doch unter all den Menschen dort sei ihnen (G.G. und dem Team) Kurt „unter den Fingern zerlaufen“, wäre er nur noch extrem ängstlich gewesen und für diese spiralartige Drehung der Gefühle hätte er die bizarren Gestalten gewählt. Es sei ein großes – auch ethisches – Problem, eine Psychose angemessen darzustellen.

Eine Nachfrage galt dem Sinngehalt der Bilder mit der Mutter. Ja, sie sollten die Unmöglichkeit des Miteinanderredens ausdrücken. Das Verhältnis der beiden sei geprägt von Unausgesprochenem, von Lücken, von Nichtbewältigtem. Es sei schier unmöglich, da hineinzustechen – er, Grabowski, wäre damit nicht fertiggeworden. Ihm sei es darum gegangen, die Sprachlosigkeit der beiden als schmerzhaftes Verhältnis auszudrücken.

Verschiedene Zuschauer empfanden – nicht nur hinsichtlich dieser Sequenz – erhebliche Probleme angesichts der Kameraführung: Sie würde die Protagonisten vergewaltigen und Nähe zu ihnen verhindern; Kamera und Regie hätten sich zu mehr Nähe zu Kurt offenbar nicht getraut. Außerdem würde Kurt unterschiedlich agieren, je nachdem, ob er alleine vor der Kamera stünde oder mit anderen zusammen; dabei sei auch regelmäßig und bei den verschiedensten Personen zu merken, sie wüßten, daß sie gefilmt werden. Daraufhin schilderte Gerald Grabowski Verfahren und Schwierigkeiten der Arbeit mit Kurt:

Ein Prinzip sei gewesen, für einzelne Szenen die Kamera hinzustellen und Kurt agieren zu lassen. Eine dokumentierende Handkamera hätte nicht funktionieren können, eine klassische Dokumentation von Kurts Alltag hätte zu einer chaotischen Struktur des Films geführt. Kurt habe einschätzen können müssen, was die Kamera tun würde, sonst habe er sich nicht verhalten können. Das Problem, was dann wie dargestellt werden solle, sei immer wieder aufgetaucht, stets verbunden mit dem Bewußtsein, möglicherweise bei Kurt unkalkulierbare psychische Prozesse auszulösen.

Kurt agiere sehr spontan. Er baue immer wieder magische Räume auf, ritze beispielsweise ein K in einen Baum und spüre plötzlich die Angst, er könne blind werden- ohne erkennbaren Anlaß. (Die Beschäftigung mit dem Thema Blindheit hätten sie entsprechend später aufgenommen.) Und so war das Drehen einerseits geprägt von der Furcht des Teams, Kurt könne in solch eine Situation hinein- und nicht wieder aus ihr herauskommen. Andererseits wären sie durch Kurt manchmal in diese magischen Räume hineingeraten: Als sie die Szene gedreht hätten, in „der Kurt die Freiheit im Wald erforsche und die Wurzeln der Bäume für ihn zu Vogelkrallen, die Stämme zu Beinen, die Kronen zu Gefieder wurden – da habe sich das auf das Team übertragen und es in diesem Moment genauso magisch gedacht.

Kurt habe nicht bewußt und keine gezielten Vorgaben für die einzelnen Szenen gemacht, sondern lediglich eine Situation vorgegeben oder sie geprägt; er, Grabowski, habe sich dann bemüht, die Empfindungen von Kurt in Bilder umzusetzen. Ein Zuschauer bezweifelte jedoch, daß der Film auf Vorgaben von Kurt beruhe: Die Sequenz mit den blinden Frauen läge doch die Assoziation nahe „Der eine blind im Kopf, die anderen blind in den Augen“ – solche Bilder/Symbolismen könnten doch nur die des Regisseurs sein!

Leider blieb die genaue Arbeitsweise etwas nebulös, auch wenn Gerald Grabowski als ein Beispiel anführte: Kurt habe den Wunsch geäußert seine Mutter zu besuchen. Das Team sei mitgefahren, die Mutter habe gerade jede Menge Butterbrote für die Leute geschmiert, da kam die Idee auf, Mutter und Sohn könnten sich vor der Kamera gegenseitig ihre Wünsche aussprechen – und etwas in dieser Richtung habe Kurt bereits früher einmal geäußert.

Von der Publikumsseite her wurde verschiedentlich bezweifelt, daß Kurt sich nicht verbal ausdrücken könne – man habe ihn im Film doch durchaus öfter recht differenziert reden hören. Grabowskis Aussage wurde als überheblich bezeichnet. Seine Replik: Kurts Ausdrucksfähigkeit sei schlichtweg begrenzt (seine verbale), weder könne er in bestimmten Situationen über seine Gefühle reden, noch über seine Vergangenheit, noch könne er in jeder beliebigen Lage sprechen.

Andere Zuschauer wollten den auf Kurt bezogenen Krankheitsbegriff hinterfragen; über keine Selbstschutzmechanismen zu verfügen, sich im wesentlichen nur anders als verbal ausdrücken zu können – dies als krank zu bezeichnen hieße doch die Unterwerfung unter einen gesellschaftlich definierten. normativen Krankheitsbegriff. Gerald Grabowski: Nach der Nomenklatur der klinischen Psychiatrie sei Kurt schizophren – doch darauf habe er im Film nicht eingehen wollen.

Ein Zuschauer: Insgesamt verbleibe nach dem Film der Eindruck, Kurt könne sich ausdrücken, sei kein sprachloser Autist, er stelle sogar per Sprache Zusammenhänge her. Durch den Ansatz von Grabowski, das Material übersichtlich zu ordnen, erscheine Kurt viel klarer und intellektueller, als er anscheinend sei – und damit stelle sich die Frage nach der die inhaltliche Aussage prägende Form des Films.

Ein anderer Zuschauer versuchte mehrmals, eine Bresche für den Film zu schlagen: Vielleicht „beunruhige“ der Film so, weil er vom üblichen Dokumentarismus abweiche – keine Reportage, keine wissenschaftliche Dokumentation, keine teilhabende Emotionalität – durch solche Formen erscheinen Verhältnisse stets als sachlich und/oder wahr. Durch die Kamera werde deutlich, wie subjektiv Gerald Grabowski und das Team Knut wahrnähmen, und dem analog sei der Expressionismus der Bilder. Er sei teilweise angerührt gewesen, teilweise nicht, doch die Wirkung expressiver Formen sei schließlich immer eine Frage des wahrnehmenden Subjekts.

Die vorwiegende – geäußerte – Haltung der Anwesenden blieb skeptisch. Ein Mensch werde abgelichtet, interpretiert und möglicherweise anders gezeigt, als er wirklich sei.

Zwischen ruf: Wenn jemand das so sagen könne, müsse der Film ja vermittelt haben, wie Kurt sei …

Ärzte und andere Personen hätten nach der Filmarbeit registriert, so Grabowski, daß es Kurt nach den Dreharbeiten besser gegangen wäre: Er habe eine Wertschätzung erfahren und Anerkennung darüber, daß man sich mit ihm beschäftigt habe.

Kurt, nach Sichten des Films am Schneidetisch, habe deutlich hörbar aufgeatmet. Sein Kommentar: „Hoppla, ich lebe ja.“