Film

Dr. med Alfred Jahn – Kinderchirurg in Landshut
von Hans-Dieter Grabe
DE 1984 | 58 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 8
07.11.1984

Diskussion
Podium: Alfred Jahn, Elfie Kreiter (Schnitt)
Moderation: Edith Schmidt, Michael Kwella
Protokoll: Jochen Baier

Protokoll

Die Diskussion der beiden Filme folgte im wesentlichen zwei erkennbaren Linien: zum einen regte Hans-Dieter Grabes Film die Zuschauer offenkundig an, den anwesenden Dr. Jahn weiter und ausführlicher zu seinen Erfahrungen, die mit der Vietnam-Bewegung im Zusammenhang gesehen wurden, wie zu seinen Einschätzungen zu befragen; zum anderen folgte die Diskussion der nicht immer explizit gestellten Frage nach der Moral des (Dokumentar-)Filmmachens.

War die Vermittlung beider Fragestellungen auch nicht immer direkt, so bildete sie doch eine subdominante continuity des Gesprächs.

Zunächst berichtete Dr. Jahn, befragt, warum er nicht mehr in Asien arbeite, über die bürokratischen Schwierigkeiten, die ihm, der zwischen zwei Institutionen zweier Staaten stand, die beide seinen weiteren Aufenthalt in Thailand befürworteten, eine Fortsetzung seiner Tätigkeit als Kinderchirurg unmöglich machten.

Es scheiterte letztlich an einem Request, den der thailändische Minister nicht ausstellen wollte aus Furcht vor Konsequenzen, die Drittländer hätten ziehen können; diesen Request forderte aber der deutsche Botschafter als Legitimation seinen übergeordneten Behörden gegenüber.

Walter Marti eröffnete die Debatte der filmisch-moralischen Aspekte mit der Bemerkung, er habe Grabes Film über Dr. A. Jahn als sehr wohltuend empfunden. Er sehe in diesem Film über Arbeit und Arbeitsmoral eine Ethik der Arbeit vorgestellt, die Parallelen zur Arbeit des Dokumentarfilmers zeige: Es gehe um ethische Fragen, um die Moral des Handwerks und die Moral gegenüber ‚den anderen‘, die bei Dr. Jahn die Patienten seien, beim Filmemacher die Zuschauer.

Hartmut Kaminski erweiterte diese Fragestellung um den Aspekt der Balance zwischen handwerklichem und politischem Engagement. Eine Bombe, in ein Dorf geworfen, so Kaminski in Anspielung auf Dr. Jahns Arbeit auf dem Schiff „Helgoland“ vor Vietnam, erfordere doch das Engagement von zumindest 150 Jahns wenigstens zur Bewahrung des Geringsten an Leben. Kaminski vermißte eine Frage zu diesem Thema in Grabes Film. Dr. Jahn mache daher durch diesen Film den Eindruck eines „guten Menschen“, der in einem Kampf gegen Windmühlen sich verzehre.

Wie man es habe überstehen können, wie er es verarbeitet habe, welche Einschätzung er retrospektiv vertrete, seien Fragen, die ihm, wie Dr. Jahn antwortete, häufig gestellt würden. Er habe aber festgestellt, daß er Vieles vergessen habe, Schreckliches sei unter die Verdrängungsschwelle gerutscht. Das damals geführte Tagebuch habe ihm, als er es jüngst erneut gelesen habe, eine Begegnung mit einem ganz anderen Menschen vermittelt. Dr. Jahn zog hier eine Verbindung zum Erinnerungs- und Erfahrungsverlust der WK I und WK II-Teilnehmer, deren Erlebnisse ebenso weitgehend verschüttet wurden.

Jedoch bereits während des Vietnam-Krieges habe er Vermittlungsprobleme gesehen. Seine Erfahrungen seien derart konträr zum Erwartungsdruck der Studentenbewegung gewesen, daß er deren Nomenklatur verständnislos gegenüber gestanden habe.

Die Frage, wie er den Balanceakt zwischen politischem und ärztlichem Engagement vollbringe, beantwortete Dr. Jahn mit dem (freudianischen) Hinweis, er sehe überhaupt wenig Möglichkeiten, jemanden am Kriege zu hindern.

Werner Ruzicka versuchte an dieser Stelle, eine Verbindung zwischen den beiden in einem Block gezeigten Filmen herzustellen, indem er herausstrich, daß beide Filme ein helfendes Engagement thematisierten. Er plädierte dafür, in der Diskussion nicht über der allzuleicht in den Verdacht des Exotismus‘ geratenden weltpolitischen Erlebnisschilderung die Verantwortung gebietenden näherliegenden Probleme zu verdrängen. Bei allen Verarbeitungsschwierigkeiten, die der Film von Mühleis (UND KEINER WEiß WARUM) enthalte, liege das Thema dieses Films, Berlin, doch auch näher; man möge vor dieser Realität nicht kneifen.

Auf die Unterschiede zwischen beiden Filmen wies ein Diskussionsbeitrag hin, der in dem Film über Dr. Jahn ein klares Motiv, eine intensiv herausgearbeitete Geschichte in Fragen und Antworten erkannte, die neugierig mache; hingegen sei in UND KEINER Weiß… kein Motiv ansatzweise erkennbar. Die Diskussionsteilnehmerin zeigte sich verärgert darüber, einen Fixer vorgeführt zu bekommen in einem Film, dessen Motiv sie überhaupt nicht begreife.

Auf diesen Einwurf reagierten die Filmemacher mit der Bemerkung, daß im Dokumentarfilm nie von vornherein klar sei, wie bestimmte Leute, mit denen man drehe, im Laufe der Arbeit sich entwickelten. Man sei nach gewisser Zeit mit jemandem konfrontiert, den man so noch nicht kenne und müsse dann sich darauf einlassen.

Martin Mühleis erklärte als sein Motiv, diesen Film zu machen, das persönliche Problem, Stadtstreicherexistenzen zu begreifen. Aus einem kleinen Dorf stammend, sei er während seines Filmstudiums in München mit dem Milieu konfrontiert worden. Er habe darüber einen Film gemacht (Freddy und Adolf), dessen tendenzielle Wirkungslosigkeit ihn frustriert habe. Sein Interesse habe sich alsdann der Frage zugewandt, wie Stadtstreicher als Kinder lebten. Der jetzige Film über die Realität der Trebegänger solle Verständnis, Emotionen und Gefühle wecken. Ziel sei es gewesen, Nähe zu erzeugen, Spürbarkeit jener Realität. Nicht sollten „Fälle“ analysiert werden. Freilich habe die Nähe zu den Kindern im Film auch Folgen für diese. Man habe sich während der Dreharbeiten immer bemüht, keine positive Bestärkung ihrer Haltung vorkommen zu lassen um diese Folgen möglichst zu beschränken. So komme auch der Abbruch von Olivers Geschichte zustande, dieser sei nämlich nach halbjähriger Recherche der Filmmacher und insgesamt 6 Drehtagen von sich aus zu der Überzeugung gekommen, wieder die Schule besuchen zu wollen. Im Auditorium empfand man Oliver allgemein als eine eigentlich doch starke Persönlichkeit, die, wie es eine Dame formulierte, Lebensmut geben könne.

Kritisiert wurde am Film UND KEINER WEiß WARUM… vor allem, daß er aus seinen Ansätzen keine Zusammenhänge bilde; so stellten Olivers Geschichte und die des Mädchens zwei zusammenhanglose Teile dar, wobei der Eindruck hinzutrat, der Blick auf das Mädchen trüge stark voyeuristische Züge.

Mühleis verwies hier auf die Produktionsbedingungen. Es sei so gewesen: Nachdem Oliver abgesprungen war, wollte man eigentlich einen neuen Film drehen, recherchierte erneut im Kiez, fand das Mädchen und ihren Freund, den Fixer. Nachdem dieser gestorben war, lief nichts mehr; auch waren die finanziellen Mittel erschöpft. Am Schneidetisch habe er den Einfall gehabt, beide abgedrehten Geschichten über semifiktionale Einstellungen zu verbinden. – Generell aber wolle er ohnehin keine Filme machen, welche ‚die Antworten‘ mitlieferten, er wolle Fragen stellen und Emotionen wecken.

In die allgemeinen Äußerungen eines der Mitarbeiter Mühleis‘ über die Berliner Situation, die er als Schrecken der Mauerstadt mit fürchterlichen Kontrasten zwischen der Ödnis der Mauergegend und dem Boom an Superkaufhäusern beschrieb, in der alle möglichen bemühten Instanzen überfordert seien, die Kinder erschreckend erwachsen seien, weil der Kiez sie hart gemacht habe und die Politik der Frau Laurien alle Ansätze offener Sozialarbeit vernichte, stieß Pim von der Medienoperative Berlin mit dem Vorwurf, die Filmmacher hätten es sich mit den Schuldzuweisungen generell zu leicht gemacht. Sie seien vollständig der „Sozialarbeiterarie“ des Fixers auf den Leim gegangen, deren Essenz die sei, daß man angesichts der fürchterlichen Umstände nichts mehr tun oder lassen könne. Auf diese Weise aber werde der Schuldzusammenhang, den man kritisieren wolle, letztlich akzeptiert.

Den Schluß der Diskussion leitete Angela Haardts Frage an Dr. Jahn ein, wie er – halte er sich die Bilder aus Berlin vor Augen – mit dem gesellschaftlichen Widerspruch des hilfreichen Engagements umgehe.

Auch er, berichtete Dr. Jahn, sehe täglich elende Kinder, denn auch in Landshut gebe es Waisenhäuser und ähnliches. Er kenne auch die Problematik der streunenden Kinder aus den Metropolen der 3. Welt. Er habe jedoch dort nur Kinder von einer ähnlichen Stärke kennengelernt wie der Olivers. Dies seien keine Leidenden, die nach der Mama schrien, sondern recht lustige Kinder, die die faszinierende Freiheit der Sterilität von Heimen und dem geregelten Familienleben vorzögen. Ihm sei die Frage wichtig, warum ein Kind solches unternehme. Im übrigen müsse eine einem Erwachsenen elend erscheinende Gegend einem Kind nicht ebenso vorkommen; sicherlich böten sich an der Mauer Abenteuer genug; auch sei die Idee, abzuhauen, weiter verbreitet als gemeinhin angenommen werde.