Film

Von wegen „Schicksal“
von Helga Reidemeister
DE 1979 | 117 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 3
1979

Diskussion
Protokoll: Uli Opitz

Protokoll

Der Film von Helga Reidemeister reihte sich ein in den Tageskomplex ‚Geschichte von einzelnen Personen‘.

Die Diskussion, die streckenweise sehr kontrovers und emotional geführt wurde, läßt sich in drei Themenkomplexe gliedern:
1. Parteilichkeit und Menschenwürde
2. Zulassen von Widersprüchen – Behandlung der einzelnen Personen
3. Dokumentarische Arbeitsweise

1. Parteilichkeit und Menschenwürde:
Die Kritik an dem Film von Helga Reidemeister entzündete sich an der Frage, ob die Filmemacherin in der Darstellung der Auseinandersetzung in der Familie von Irene Rakowitz zu weit gegangen sei. Es kam der Vorwurf des Voyeurismus und der Verletzung der Menschenwürde, vor allem bezogen auf: die Szene mit Irenes kleinem Sohn am Eßtisch, die eine dramatische Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn abbildet, in deren Ver. lauf der Sohn in Tränen ausbricht; die Szene am Schneidetisch, in der Irene Aus, sagen ihrer Tochter Carmen auf dem Monitor sehen muß, ein gemeinsames Gespräch vor der Kamera kam nicht zustande – und angesichts der totalen Ablehnung ihrer Tochter „Das ist nicht mehr meine Mutter“, in Tränen ausbricht. Eine Zuschauerreaktion zu dieser Szene: „Ich bin rausgelaufen, um nicht mitschuldig zu werden.“ Helga Reidemeister verteidigte die Szenen mit dem Argument, daß Irene sowohl mit der Veröffentlichung einverstanden war als auch bei der Arbeit selbst gemeinsam mit Helga sich für die Schneidetischszene entschieden hatte, nachdem ein gemeinsames Gespräch mit den Töchtern nicht zustandekam.

Bei der Szene mit dem Sohn wurde kritisiert, die Verletzung der Menschenwürde sei noch gravierender, da der kleine Junge sich überhaupt nicht gegen seine Abbildung im Film und die Behandlung vor der Kamera während der Dreharbeiten wehren konnte. Ebenfalls sei bei dieser Szene sehr problematisch, das Helga im Off zur Anwältin der Mutter gegen das Kind werde, hier wäre es besser gewesen, eine klare Dokumentation mit entsprechender Distanz der Filmemacherin zum Geschehen vor der Kamera zu machen. Auch diese Kritik wies Helga Reidemeister zurück. Sie erläuterte an der Szene, daß der Vorwurf der Verletzung von Menschenwürde ihrer Meinung nach nicht gerechtfertigt sei. Erstens seien das real vorhandene Widersprüche zwischen Mutter und Sohn, die abgebildet würden, zweitens sei der Kleine sehr stark, was auch in der Szene zum Ausdruck komme, als er nach dem Weinen den Kopf wieder oben hat und sich wehrt, drittens hätte er die Filmemacher in dieser konkreten Situation als seine Verbündeten begriffen, er hätte sich unter anderem gerade deshalb wehren weil die Anwesenheit von Helga und der Kamera die Familiensituation zumindest durch diese partielle Öffentlichkeit aufgebrochen habe.

Die prinzipiellere Diskussion zur Frage der Verletzung der Menschenwürde verlief kontrovers zu den Punkten, Lob das Vorgehen der Filmemacherin generell gerechtfertigt sei, so intimes Material zu veröffentlichen, und 2. ob Helgas Parteilichkeit für Irene ihr nicht den Blick für die detailliertere Zeichnung der anderen Familienmitglieder verstelle.

Dazu wurde von Zuschauerseite angemerkt, die Würde des Menschen liege gerade darin, daß Irene den Mut habe, ihre Erfahrung, ihr Leid öffentlich zu machen. Klaus Kreimeier betonte, daß die emotionale Ablehnung des Films durch einen Teil der Zuschauer müsse dahingehend reflektiert werden, daß wir psychische Zusammenbrüche im Film offenbar leichter verkraften. wenn sie im Spielfilm stattfinden. Beim Dokumentarfilm würde das plötzlich nicht mehr ausgehalten. Das habe aber etwas mit den realen Widersprüchen zu tun, die hier abgebildet würden, in ihrer ganzen Zerreißprobe, die sie für die Betroffenen darstellten. Deshalb sei dies ein Dokumentarfilm im besten Sinne, da er sich auf die realen Widersprüche einlasse.

Dem wurde entgegengehalten, Helga Reidemeister habe so stark eingegriffen, daß sie Irene selbst zur Verzweiflung brachte (Szene auf dem Bett, in der sie Helga anschreit „Hör auf“). Hier sei nicht schonungslos dokumentiert worden, sondern durch die Filmarbeit ein Anspruch in die Familie gekommen, der vorher nicht da war, und durch Helgas Parteilichkeit für Irene habe diese den Film für ihre Auseinandersetzung mit der Familie benutzt.

Helga Reidemeister erklärte dazu, daß sie den Film nicht hätte machen können, wenn sie nicht mit frene gemeinsam das Buch geschrieben hätte, sie sich vot den Dreharbeiten nicht eine Woche intensiv zusammengesetzt hätten und alle Szenen durchgesprochen hätten, und sich beide vor Beginn der Dreharbeiten einig gewesen wären, daß es in dem Film keine Tabus geben dürfe. Ihre Parteilichkeit für Irene begründete Helga damit, daß sie kerne sehr lange durch ihre Sozialarbeit im märkischen Viertel kenne, daß sie eine intensive Beziehung zu Irene habe, daß sie aber auch für die anderen Familienmitglieder eine Parteilichkeit entwickelt hätte. Ihren prinzipiellen den Film so zu machen, erläuterte Helga mit einer Aussage von Irene, die ihr – nachdem sie als Studentin an die DFFB gegangen war – gesagt hatte: „Wenn du da hingehst, komm mit den Geräten wieder und mach was. Wenn die politische Arbeit sich nicht niederschlägt im Aufgreifen der Lebenssituation, dann habt ihr nicht begriffen, was politische Arbeit ist“.

2. Zulassen von Widersprüchen – Behandlung der einzelnen Personen:
Von Zuschauerseite wurde kritisiert, daß der Film zwar einen Entwicklungsprozeß von Irene dokumentiere, aber die widersprüchliche Entwicklung der anderen Familienmitglieder, ihre Motivationen, ihr Verhalten nicht so ausführlich darstelle, daß auch bei ihnen Hintergründe für ihr Verhalten sichtbar würden und ihnen ebenfalls eine Entwicklungsmöglichkeit zugestanden wäre. Diese Kritik wurde zu. gespitzt an der Darstellung der Tochter Carmen und des Ehemannes Richard.

Dagegen erklärte Helga Reidemeister, daß die Zeichnung der Person Carmen im Film bereits eine enorme Frisierungsarbeit am Schneidetisch darstelle, da sie in der Realität noch rechtsradikaler sei. Sie hätte diese Schnitte gemacht, um einmal die im Film auch deutlich werdende Hoffnung von Irene, daß Carmen sich noch mal ändern könne, nicht zu zerstören, zum anderen, um Carmen selbst nicht so zu kompromittieren, daß ihr jeder Lernprozeß verbaut würde.

Dem wurde entgegnet, daß diese „Schonung“ von Carmen nicht die richtige Form der Schonung sei. Die Filmemacherin wurde kritisiert , daß sie keine Neugierde für die Entwicklung und die Lebensumstände von Carmen entwickelt habe, „Kinder und Ehemann bekommen die Funktion, die Trauer von Irene deutlich zu machen. Fängt die Menschlichkeit da an, wo man Partei für einen ergreift, oder fängt sie da an, wo man sie für alle ergreift. Und da finde ich den Film mißlungen“, so Jutta Uhl.

Darauf Reidemeister: „lch bin von Irene fasziniert, habe eine starke Beziehung zu ihr. Ich wollte ihren Entwicklungsprozeß darstellen. Ihre Kraft hat mich beeindruckt. Für die Darstellung der Kinder und des Ehemanns wären bei 90 Minuten erhebliche Zeitprobleme entstanden. Deshalb die Konzentration auf Irene“ Die Kritik der unzureichenden Hinterfragung der Situation des Ehemannes wies Reidemeister zurück. Viele Punkte im Verhalten des Ehemannes, z. B. daß es Irene ZUL Invalidin geprügelt habe, wurde nur am Rande angesprochen, um ihn in der Öffentlichkeit nicht auch noch Schläger hinzustellen, zumal er selbst inzwischen durch einen Unfall zum Invaliden geworden sei. „Irene mußte den Schwerpunkt darstellen, gemessen an der Eherealität.“ Die Filmemacherin erklärte, sie habe zu den anderen Familienmitgliedern ebenfalls Parteilichkeit entwickelt auch die Prozeßhaftigkeit dargestellt, z. B. würde in der Bügelszene am Schluß des Films, die ein viertel Jahr nach der Schneidetischszene gedreht sei, ganz klar der Entwicklungsprozeß im Verhältnis von Irene und ihrer jüngsten Tochter deutlich. „Da ist das Prinzip Hoffnung drin. Irene freut sich, die Tochter ebenfalls.“

3. Dokumentarische Arbeitsweise:
Die sich aus den beiden ersten Komplexen ergebenden Problemstellungen für die dokumentarische Arbeitsweise wurden leider nur andiskutiert, können deshalb hier auch nur skizziert werden. Klaus Wildenhahn verwies darauf, daß man beim Handwerk des Dokumentarfilms immer vor dem Problem stehe, sich für Personen, die man filmt, zu entscheiden. Hat man diese Auswahl einmal getroffen, geht man in die konkrete Drehsituation. Dann läßt man aber Widersprüche zwischen den Personen zu. Die Parteilichkeit für die Mutter in diesem Film zerstört diesen Ansatz für den Filmemacher. Das intensive Verhältnis zwischen Helga und Irene, das der Ausgangspunkt für diesen Film war, hätte eine andere Form der Darstellung verlangt, z. B. einen Dialogfilm zwischen Irene und der Kamera/ Filmemacherin.

Ein Zuschauer kritisierte in die ähnliche Richtung: Der Aspekt des Dokumentarfilms, daß die Kamera direkt in Lebenszusammenhänge eingreift, macht den Film problematisch, da die Parteilichkeit bei Irene. liegt, die anderen Familienmitglieder aber ebenfalls von der Filmsituation bedrängt werden.

Eine Filmmacherin, die 5 Dokumentarfilme über Personen gedreht hat, verwies darauf, daß das, was durch die Filmsituation in den Familien in Gang gesetzt wird , nicht die Wirklichkeit der Leute ist. Die Filmsituation bleibt immer eine Ausnahmesituation. Das müsse vom Filmemacher mitreflektiert werden, sowohl auf der menschlichen wie auf der handwerklichen Ebene.

Als Lösung für dieses Dilemma wurde andiskutiert, wieweit es sinnvoll gewesen wäre, die Filmemacherin noch stärker in das Geschen einzubeziehen, ihre Position auch vor der Kamera deutlicher zu machen, Die Redesituation im Off sei sehr gefährlich, da hinter ihr die Macht des Mediums stehe.

Heinz Trenczak verwies darauf, daß die Machart des Films mehr zum Feature als zum Dokumentarfilm tendiere. Er spreche dem Film nicht die Existenzberechtigung ab, aber die Bezeichnung als Dokumentarfilm finde er problematisch, das sei für ihn in der Diskussion auch an solchen Worten von Helga Reidemeister deutlich geworden wie Schnitt bilder, frisieren etc. Für ihn sei der Film mehr ein therapeutischer Film.

Helga Reidemeister erklärte, daß für sie die Definitionsfrage, ob Dokumentafilm oder nicht, nicht das Entscheidende sei. Sie hätte versucht, mit dokumentarischen Mitteln den Entwicklungsprozeß von Irene darzustellen. Ihr wäre es darum gegangen, die an diesen Personen sichtbar werdenden Widersprüche, die gerade auch Produkt einer bestimmten Klassensituation seien, sowohl als individuelle wie als gesellschaftliche Widersprüche deutlich zu machen.

Bei einer Vorführung des Films vor zweihundert Frauen aus der Gewerkschaftsbewegung im Alter zwischen 40 und 60 sei sie kritisiert worden, daß die Rolle solcher Frauen wie Irene noch zu wenig radikal dargestellt worden sei. Die Wirklichkeit sei oft noch schlimmer.