Film

Ich heiße Erika und bin Alkoholikerin
von Heide Nullmeyer
DE 1979 | 90 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 3
1979

Diskussion
Protokoll: Klaus Kreimeier

Protokoll

Vorgeschlagen wurde, den Film unter zwei Aspekten zu diskutieren:
1. Den Problemkreis ‚Alkoholismus‘
2. Die formale Umsetzung

Gleich zu Anfang der Diskussion wurde betont, daß der F ihn fürs Fernsehen gedreht wurde, also diese spezifischen Bedingungen der Produktion mitzuberücksichtigen sind. Der Film dauert 90 Minuten und überschreitet somit die ,Normalzeit‘ von Fernsehfilmen mit journalistischer Form (45 Minuten). Dadurch konnte in dem Film das Alkoholikerproblem intensiver diskutiert werden und die Betroffenen konnten sich ohne große zeitliche Begrenzungen selbst stärker in den Film einbringen. Negativ wurde jedoch angemerkt, daß 90 Minuten Film, in dem fast pausenlos geredet wurde, an den Zuschauer hohe Anforderungen an die Konzentration stellt. Vermißt wurden kurze Erholungspausen, Szenen, in denen die Kamera nur beobachtet, und der Zuschauer Atem holen und über ‚Gehörtes‘ nachdenken kann. Die Filmemacherin Heide Nullmeyer nach den Reaktionen auf den Film befragt, berichtet, daß der Film z, T. ein gehr positives Echo fand. Er hat, obwohl er im Nachmittagsprogramm lief, starke Zuschauerreaktionen — vor allem bei Betroffenen — ausgelöst.

Dann schilderte Heide Nullmeyer kurz die Ausgangsbedingungen für diesen Film. Sie hatte Erika schon vor übex zwei Jahren im Zusammenhang eines anderen Filmprojektes kennengelernt und kannte ihre Probleme als Alkoholikerin. ALs sie dann, auch durch persönliche Erfahrungen motiviert, plante, einen Film über das Thema , Alkoholismus‘ zu drehen, erinnerte sie sich wieder an Erika. Das Filmprojekt wurde dann von beiden gemeinsam geplant, und es wurden vorab lange und ausführliche Gespräche geführt. Auch wenn oft Szenen ungestellt gedreht wurden wie z. B. die Szene am Frühstückstisch, so kamen die Fragen an Erika und ihre Familie jedoch nicht überraschend, sondern waren vorher abgesprochen. Bemerkenswert fand die Fümemacherin auch die Eigenständigkeit, mit der Erika sich dafür entschied, den Film zu machen. Erikas Mann und ihre Familie zögerten anfangs, entschlossen sich dann jedoch auch zur Mitarbeit. Problematisch war allerdings, daß Erika aus der Gruppe der Anonymen Alkoholiker heraustrat und ihre Anonymität aufgab. Dieser Entschluß Erikas wurde von der Gruppe der Anonymen Alkoholiker nach ausführlicher Diskussion schließlich akzeptiert und respektiert.

Besonders positiv hervorgehoben wurde von den Diskussionsteilnehmern der Anfang des Films. Hier konnte man Erika bei ihrer Arbeit beobachten, bei der sie – fast nebenbei – ihre Kindheitserinnerungen erzählte, während sie sonst fast nur in Dialogsituationen über ihre Erfahrungen sprach. Die beobachtenden Szenen kamen nach Meinung vieler Diskussionsteilnehmer zu kurz. Die Filmemacherin entgegnete dazu, daß sie sich selbst unter den Zwang gestellt sah, möglichst viele Informationen zu dem Thema zu vermitteln.

Kritisch angemerkt wurde auch, daß Heide Nullmeyer z. T. für den Zuschauer mitdachte, d. h. den Film zu stark strukturierte. So wurden z. B. bestimmte Kernsätze aus der Erzählung Erikas herausgefiltert und quasi als Lehrsätze zwischen zwei Szenen eingeblendet.

Es wurde darauf hingewiesen, daß der Film ‚lch heiße Erika und bin Alkoholikerin‘ in die ,Schiene‘ des journalistischen Films gehöre. Außerdem sei es problematisch, einen solchen Fernsehfilm mit den Augen des dokumentarischen Filmesehens zu beurteilen. Der Film geht jedoch auch über den üblichen Fernsehrahmen hinaus. So versucht z. B. die Filmemacherin eine Bewegung von innen nach außen zu vollziehen. Am Anfang konzentriert sie sich ganz auf Erika, dann wird der Kreis der Personen immer größer gezogen: zur Familie, zu Verwandten bis zu Selbsthilfegruppen. Diskutiert wurde dann auch, ob nicht der Film eine Welt ohne Konflikte zeige. Besonders die harmonische Beziehung zwischen Erika und ihrem Mann wurde als nicht repräsentativ angesehen. Hier wehrte die Filmemacherin jedoch ab: Der Film zeige keine Idylle, die Gefahr bzw. Angst, rückfällig zu werden, sei in dem ganzen Film zu spüren. Den positiven Gesamteindruck des Films findet Heide Nullmeyer wichtig, um Resignation bei den betroffenen Zuschauern zu vermeiden.

Thematisiert wurden auch die Schwierigkeiten, bestimmte Aussagen ,dokumentarisch* d. h. im allgemeinen Lebenszusammenhang darzustellen. So störte allein die Präsenz der Filmemacher in dem *normalen‘ Tagesablauf der Familie. Und hier setzte auch die wichtigste Kritik an dem Film an: Will man, dem Anspruch gemäß, die Problematik des Alkoholismus in die spezifischen Zusammenhänge einordnen, so kann nicht, wie es die Filmemacherin tut, die Berufs- und Arbeitssphäre zum größten Teil ausgespart werden. So wird weder erwähnt, ob Erika berufstätig ist bzw. was sie arbeitet, noch auf die Arbeitswelt ihres Mannes eingegangen. Die Filmemacherin selbst begründete dieses Manko dadurch, daß Erikas Mann aus Angst vor Repressionen in seinem Betrieb und bei seinen Kollegen seinen Beruf nicht öffentlich machen wollte. Um das Vertrauen nicht zu gefährden, habe sie das respektiert. An diesem Punkt ging die Kritik z. T. noch weiter: Der Alkoholismus sei recht einseitig psychoiogisch d. h. aus der individuellen verkorksten Kindheitsgeschichte Erikas erklärt worden. Bestimmte gesellschaftliche Zusammenhänge wie z. B. ökonomische Probleme seien in dem Film ausgespart.

Zum Schluß ging Heide Nullmeyer noch kurz auf die Drehbedingungen ein: Sie hat mit einem 5 Mann/Frau Team etwa 3 Wochen lang jeden Tag gedreht und dann 4 Wochen lang geschnitten. Für Erikas Familie war das sicherlich eine Belastung, die aber vorher abgesprochen war und auf die sie sich eingelassen hat. Über sich selbst sagt die Filmemacherin, daß sie durch die Arbeit an diesem Film ihr eigenes Trinkverhalten geändert hat. Wenn sie etwas trinke, so sehr viel bewußter als früher.