Film

Ein Tag mit dem Wind
von Haro Senft
DE 1977 | 94 Min.

Screening
Duisburger Filmwoche 2
1978

Diskussion

Protokoll

Frage: Da dies ein Kinderfilm ist und wir einige Kinder unter uns als Zuschauer haben, möchte ich sie zuerst fragen, was sie zu diesem Film sagen möchten.
Kind: Ich fand das Kind viel zu leichtsinnig.
Kind: Per Anhalter, da kann so viel passieren. Außerdem fand ich es bei diesen Leuten, wo das Kind zum Schluß war, sehr langweilig.
Frage Glaubt ihr, daß Kinder diese Sachen, nachdem sie diesen Film gesehen haben, nachmachen werden?
Kind: Nee, vielleicht Verrückte, aber keine Normalen, das haben die Eltern denen bestimmt gesagt.
Mann: Der Junge hatte doch keine Angst vor den Leuten, und die waren doch auch nett.
Kind: Woher weiß man das, daß die nett sind?
Frage: Was gefällt euch denn an dem Film nicht?
Kind: Dn Traum war langweilig. Der war so durcheinander. Ich habe den auch nicht vn.,tandcn Man wußte nie, ob der das träumt oder ob das wirklich war.
Doch. das wußte man schon: aber
Frage: Habt ihr den Film nun wie ein Märchen autgefaßt oder wie Wirklichkeit?
Frage: Hat der Marcel die Geschichte wirklich erlebt?
Kinder: Nee, die war erfunden. – Der sah irgendwie so brav aus! So lieb, daß der sowas nie machen würde.
Frau: Die Sachen, die der da macht, die hätten mir jetzt noch Spaß gemacht, bin vor kurzem mit Schülern unterwegs gewesen, die viel älter sind als ihr, die haben also solche Dinger alle noch gemacht, und ich habe mich gewundert, daß das so locker lief, ich glaube, daß da so manche Ideen drin sind, die ihr nächste Woche auch ausprobieren werdet. (Lachen)
Frau: Ich habe erwartet, daß irgendwann in dem Film eine schimpfende Stimme kommen würde.
Mann: Ja, das wollen die Kritiker sagen, daß das gefährlich ist. Ich habe aber Spaß daran gehabt, daß das gar nicht drin vorkam, das das alles so menschenfreundlich war. Es gab keine Angst in dem Film, höchstens in dem Test da. . .
Kind: mit dem Gewehr. . .
Mann: Das war ’ne Bedrohung – hattet ihr da Angst?
Kind: Zuerst ja. Ich muß ehrlich zugeben, ich hatte geglaubt, daß der Mann da das Kind entführt. Wo der da so in die Luft geschossen hat.
Mann: Diese Traumwelt, die dargestellt wird, ist sehr verschieden von der Wirklichkeit, wo solche Geschichten ja viel passieren, da ist erwiesen, schlimme Geschichten von Kindern, die alleine unterwegs sind. Und ich weiß nicht, was Eltern davon halten, dies als Anleitung für ihre Kinder zu sehen.
Mann: Kinder verstehen das irgendwie anders, nicht, daß sie das unbedingt nachmachen – wir Erwachsenen leben doch in einer anderen Medienwelt.
Frau: Ich bin so ein Elternteil. Wenn ich so eine Anzeige von einer Kindesentführung lese, dann nehme ich das schon als Anlaß, mit meinem Kind darüber zu sprechen, ich kann die Erwachsenenwelt nicht so positiv darstellen. Ich finde den Film auch sehr schön, wenn wir den Film hinterher zusammen besprechen, dann kommen da auch einige realistische Aspekte rein. Es könnte schön sein, aber das Risiko ist groß. . .
Mann: Dann müßten eben Eltern oder Bekannte sowas mit den Kindern unternehmen, das lag ja hier auch an den Eltern, die andere Interessen hatten als mit dem Marcel was zu machen.
Mann: Der Film vermittelt sehr stark eine Atmosphäre der Friedfertigkeit und des Vertrauens. . . Es ist genauso wichtig, den Kindern zu vermitteln, daß sie Vertrauen m Erwachsene gewinnen, Freunde finden. . .
Frau: Der Großteil der Vergehen an Kindern werden laut Statistik in der Familie begangen, daß diese dauernde Angst vor Fremden, die den Kindern eingetrichtert wird, in diesem Film etwas aufgehoben werden kann.
Mann: Es entstehen dabei aber genauso wieder Klischees von Friedfertigkeit, man erlebt keine Auseinandersetzung der Kinder mit der Wirklichkeit – die Kinder sagten es selbst die Unsicherheit zwischen Traum und Wirklichkeit, man schwankte immer. Ich hab’ die große Schwierigkeit als Vater, wie kann man diese Ebenen trennen: das kann ich nicht machen, da muß ich Vertrauen schaffen, prima, das kann ich durchführen.
Mann: Wir haben es uns schon so angewöhnt, immer etwas Negatives zu erwarten, aber das fand ich hier so gut, Das Kind wagte etwas, und es kam immer etwas Positives dabei heraus, das war das Überraschende.
Frau: Was ich schade fand, war, daß alles nur ausgeflippte Typen da waren, bis auf die Obstverkäuferin. Daß nicht nur besondere Leute, auch von ihrer Erscheinung her, auf den Jungen eingehen, hätte bedeutet, daß auch mehr Realität in dem Film drin ist. Damit könnte man besser umgehen.
Mann: Normale Leute haben dazu keine Zeit.
Frau: Mir hat aber auch der Versuch da tu gefehlt.
Mann: Der Regisseur hat ja sebst vor, für sich solche alternativen Lebensformen zu realisieren. Er wollte sicher Vorurteile abbauen.
Frau: Der ganze Film ist eine Ausnahmesituation – welche Mutter läßt ihr Kind zwei Tage ganz alleine!
Frau. Ich glaube, daß das heute leider nicht mehr die Ausnahme ist
Mann: . . . daß man die Leute nicht anrufen läßt bei den Eltern, realistisch kann man das deshalb schon nicht sehen.
Frau: Daß der Junge das Kaninchen dann wirklich nicht für 20 DM bekommt, sondern anders, wie der Maler sagt, das finde ich sehr schön.
Mann: Da besteht auch so eine Art Stadt-Land-Konflikt. Land als die helle Welt und Stadt als Zerstörendes. Ich halte dc1s für eine sehr gefährliche Ideologie. Wir wissen, wie schwierig so ein Landleben ist. Zurück zur Natur ist sicher nicht die Alternative, die wir für uns und die Kinder anbieten können.
Mann: Es ist für Kinder auch viel spannender in der Stadt. Dort ist die Freundin, er ist nur ins Dorf gegangen, um sein Kaninchen zu holen.
Mann: Die Stadt wurde als Dorf gezeigt.
Mann: Die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen ist in der Tat gestört, daß dafür etwas getan wird, ist positiv. Ich finde es aber unverantwortlich, effektive Gefahren zu idealisieren, wenn man Kinder ernst nimmt, und ich meine, daß Haro Senft das nicht immer tut, – das sieht man an seiner abgehobenen Ästhellk.
Ein 8jähriges Kind kann einfach nicht allein in das Auto eines fremden Mannes steigen, es sollte auch nicht vorne sitzen, da weiß man auch, was passiert bei der kleinsten Bremsung, solche Sachen mögen unwichtig und pingelig klingen, ich meine aber, daß man ein bißchen verantwortlicher in der Teilung der Ebenen sein sollte.
Mann: Das werden die Kinder nicht nachahmen, es ist ja gerade das Gute, daß sie hier etwas erleben, was sie nicht nachmachen werden, etwas, das abgeschlossen ist mit dem, was sie sehen.
Mann: Ich sehe aber trotzdem keinen Sinn darin, das zu zeigen. Kinder kommen damit zu Erwachsenen und sagen: das habe ich gesehen, das geht doch!
Mann: Senft hatte gar kein Drehbuch, sondern hat das ja mit den Kindern zusammen gemacht. Und wenn sich das Kind da ins Auto setzt, dann hat sich das so aus der Handlung der beteiligten Personen ergeben und nicht aus pädagogischer Absicht.
Mann: Ein Regisseur ist doch dazu da, Wirkung zu erzeugen, und da möchte ich fragen, was er hier beabsichtigt.
Frau: Als die da aus dem Restaurant gingen nach dem Essen, sagte mein Sohn, die haben ja gestohlen – wie soll man ihm klarmachen, daß man das mal machen kann?
Mann: Wenn die alles machen würden, was sie mal sehen oder hören, in Büchern oder Märchen oder Bonanza oder was, wo kämen wir denn da hin, wenn man nicht mehr spinnen darf?
Frau: Es ist aber ein Unterschied zwischen Bonanza und der Welt, in der der Film spielt, ich habe die Kinder eben noch mal gefragt, die nehmen das schon als Wirklichkeit, der Film spielt an authentischen Schauplätzen, deshalb meine ich, daß man damit ernsthafter umgehen muß.
Mann.· Wie langweilig wird das dann! Mehr Mut zum Risiko!
Frau: Es ist wichtiger, dort Mut zum Risiko zu lernen, wo man sich gegen Autoritäten wehrt, solche Stelle hat mir in dem Film gefehlt, daß sie Tapferkeit nicht nur einem Gewehr gegenüber zeigen, sondern in sozialen, konkreteren Situationen.
Mann: Das wäre wieder ein anderer Film.
Mann: Der Film war auch zu lang.
Kind: Was ich zu lang fand, war der Traum. Sonst habe ich mich nicht gelangweilt. Wenn er noch länger wäre, wäre ich gegangen.
Mann: Ich fand das unheimlich lang; ich fand ihn aber auch ganz ruhig, aber man hätte irgendwann in der Erzählung Schluß machen können.
Frau: Es ist hier auch eine grundsätzliche Frage angesprochen, die mit diesem Film verknüpft wird: Es gibt keinen guten Kinderfilm mehr, dafür muß unheimlich viel getan werden. Haro Senft wird oft als Beispiel für einen guten Kinderfilm zitiert:
Füllt man einen unwirklichen Handlungsablauf nur einfach statt Bonanza oder Western mit der ‚Münchner Szene’ auf, und sonst bleibt es von der Wirklichkeit der Kinder abgehoben, oder sieht die Richtung des besseren Kinderfilms so aus, daß man da ein Verhältnis findet von solchen Traumszenen und der Wirklichkeit?

Vier Kinder beim Verlassen des Kinos

Frage: Was hat euch an diesem Film gefallen?
Kinder: Das mit der U-Bahn, die Türen und so, ja überhaupt der ganze Film war nicht mal so schlecht. Nur das Ende fand ich nicht gut. Die Leute, ich wär da nicht hingegangen, wo der draußen schlafen muß, die hätten den ja wirklich mit reinnehmen können. Wenn dem jetzt was passiert wär’, und die Mutter wäre da aufgetaucht, vielleicht wären die dann in Schwierigkeiten gekommen. –
Wir hatten so’n Zettel bekommen, da hab ich den Inhalt gelesen, da stand auch, daß der Vater für ihn nicht mehr existiert – und daß der für ihn nicht mehr existiert –
2 Kinder: . . . und da haben wir irgendwie gedacht (zwei sprechen zugleich), daß der Vater da drin vorkommt, aber der kam ja gar nicht. Genauso mit der Mutter, –
1. Kind: . . . da war ich gespannt drauf, ich hatte gedacht –
2. Kind: . . . daß da irgendwie die Mutter noch mehr erscheint –
1. Kind: . . . die war auch nur einmal ganz kurz da –
2. Kind: . . . daß die Mutter den irgendwie noch sieht oder so, daß die da mal hingeht oder sowas – Wie der aufgestanden war und die Mutter woanders war? daß der das sofort wußte!
Die hätten doch wenigstens sich ein bißchen um das Kind kümmern können, also, warum lebt sie denn bei dem Freund, der hätte ihn doch ruhig mal mitnehmen können. Vielleicht, wenn ihn jetzt ein Polizist erwischte, und er hätte sicher nicht schnell überlegt, sondern hätte gesagt, meine Eltern sind weg, dann wäre er jetzt ja im Heim, das wär auch nicht gut.
Frage: Hier in der Diskussion wurde ja darüber gesprochen, ob der Film ein Märchen sei.
Kinder: Das war ja gar keine richtige Märchenhandlung, – auch mit der Fahrkarte, kann mir auch schon mal passieren, das ich kein Geld habe und ich find mal eine, – das ist bis jetzt noch nicht passiert, aber warum soll das nicht mal gehen? – Tschüß, wir müssen jetzt gehen!

Nach der Diskussion. fragte mich ein Kind beim Rausgehen:
„Was ist eigentlich ‚wirklich’ in dem Film gewesen?”