Nina Selig

Essay: Uncertain spaces

Meine Eltern haben sich in den 1980er-Jahren getrennt, und wie man das damals noch so machte, sahen wir unseren Vater nur noch alle 14 Tage am Wochenende. Entfremdet wie wir waren, weil kein gemeinsamer Alltag mehr da war, haben wir uns an diesen Wochenenden ins Kino gerettet. Im Programmkino unseres Vertrauens haben wir schweigend nebeneinander sitzend die Kinderfilmklassiker der 1980er-Jahre gesehen, und danach sprudelte es aus mir und meiner Schwester regelrecht heraus. Das Kino hat uns das gemeinsame Sprechen erleichtert. Die Konzentration des Raumes, in der niemand nebenbei noch um die Kinder herum alles andere erledigen kann, was Kinder mit sich bringen, hat uns alle drei umschlossen.

Meine Jugend habe ich dann mit meinen Freundinnen in den zahlreichen Programmkinos unserer Stadt verbracht und folgerichtig nach der Schule in einem von ihnen an der Kasse angefangen zu arbeiten. Als ich zum Studium (Film- und Fernsehwissenschaften, ist doch logisch) nach Bochum zog, rief mein Düsseldorfer Chef die Kolleg:innen vom endstation.kino an und vermittelte mich weiter. Seit über 20 Jahren kenne ich diesen Ort von allen Seiten, die er hat. Am Anfang stand ich am Kinotresen und habe die Tickets und Süßigkeiten verkauft. Dann bin ich in den Vorführraum gewechselt und habe zehn Jahre lang 35-mm-Filme vorgeführt. Mein Bild von Programmarbeit in diesem Kino war trotz der Nähe immer ein sehr fantasievolles: Rauchend im Büro sitzen, den nächsten Flug nach Cannes oder Venedig buchen und irgendwie war alles schwarz-weiß und körnig und wie in einem frühen Film von Jim Jarmusch. Das wurde auch noch befeuert von Filmkopien im Keller, von denen wir wussten, dass sie gemeinsam mit einem anderen Kino direkt in den USA gekauft wurden, um unserem Publikumenglische Originalfassungen zeigen zu können. In diesem Kino habe ich meine prägendsten Filmerfahrungen gemacht. Sie waren hier auf eine Art möglich, wie sie nur im Kino möglich sind – immersiv, konzentriert und mit vielen Gesprächen verbunden. Ich bin in so einem Kino zuhause. Was für ein Luxus.

Seit ich zusammen mit meinem Kollegen Serbay Demir vor zehn Jahren selber die Programmgestaltung im endstation.kino übernommen habe, habe ich sogar die Verantwortung und Gestaltungshoheit für dieses Zuhause. Eigentlich ein Traum (in schwarz-weiß, siehe oben) und auf jeden Fall ein wahnsinniges Privileg. Unser Kino ist nicht nur Teil eines Soziokulturzentrums, sondern unser Kinoverständnis ist durch und durch soziokulturell. Wir verstehen das Kino als offenen Ort, einen im besten Sinne „uncertain space“, an dem wir herausgefordert werden durch Neues, Begegnungen, Experimente, Gespräche und die Unmittelbarkeit des Kinoerlebnisses. Wir bieten unser Kino aber auch als „safe space“ an für die, die einen brauchen, und helfen dabei, ihn so zu gestalten, dass er für alle ein geliebter und gelebter Ort sein kann.

Wir öffnen unser Kino schon für Kinder ab vier Jahren. Sie kommen entweder mit ihrer Kita-Gruppe im Rahmen des vom Deutschen Filmmuseum und FilminstitutFrankfurt entwickelten MiniFilmclubs zu uns oder mit den Erwachsenen ihrer Wahl zu einem unserer endstation.familienkinos am Sonntagvormittag. Frühkindliche ästhetische Filmbildung ist für uns das wichtigste Instrument geworden, um unser Kinoverständnis zu leben und weiterzugeben. Wir sehen die MiniFilmclub-Kinder in Projekten für benachbarte Grund- und Förderschulen wieder, und einer Gruppe Teenager ermöglichen wir bald über unsere Ferienworkshops hinaus im Rahmen einer regelmäßig stattfindenden Kino-AG Film in all seinen Formen kennenzulernen. Kinder und Jugendliche wachsen mit unserem Kino auf, sind hier zuhause. Ihre Besuche, die Workshops, die von uns angebotenen begleitenden Fortbildungen für pädagogische Fachkräfte, die Kooperationen mit den verschiedenen Hochschulen unserer Stadt zeigen uns immer wieder neu und anders, wozu ein Kino da sein kann und was es bewegt.

Doch unser Kino ist, wie viele andere Kinos dieser, unserer Art, ein im bedrohlichen Sinne „uncertain space“ geworden. Denn um überleben zu können, sind wir vom Umsatz an der Kinokasse und an der Getränke- und Süßigkeitentheke abhängig. Ein kommunales Kino waren wir noch nie und wenn wir eins wären, wären wir wahrscheinlich von Zuschusskürzungen oder gar Schließung bedroht. Wir sind abhängig vom Filmmarkt und müssen dort erfolgreich bestehen, um der Filmbildung, den kommerziell uninteressanten aber künstlerisch wertvollen Filmen, weiterhin einen Ort geben zu können. Und dieser Filmmarkt sieht vor, dass Filme möglichst viele Tage am Stück gespielt werden ohne Unterbrechung durch Sonderveranstaltungen wie Filmgespräche oder einmalige Vorstellungen, die z.B. Studierende konzipiert und für die sie vielleicht Repertoire-Filme kuratiert haben. Der kommerzielle Druck auf den Kulturort Kino hat sich durch die Folgen der Pandemie bis ins Unerträgliche erhöht.

Ein alternatives Kinomodell, das eine andere Zukunft ausprobiert, ist das Sinema Transtopia in Berlin. Jeden Abend läuft nur ein von abwechselnden Personen kuratierter Film in voller Konzentration und mit Begleitung durch Filmgespräche. Dieses Kino ist durch Kürzungen von Förderprogrammen in existenzielle Gefahrgeraten. Denn diese Art von Kino – multidivers, interdisziplinär, international, experimentell und radikal offen für das, was die unterschiedlichen Kurator:innen in ihrem Kino zeigen wollen – widersetzt sich den kommerziellen Logiken des Filmmarktes und muss mit einem Flickenteppich aus unterschiedlichen temporären (Projekt)förderungen überleben.

Dass wir als Gesellschaft das offene Kino brauchen, zeigen auch aktuelle Vorfälle aus Köln. Eine Jugendgruppe aus dem Filmhaus Köln wollte an mehreren Abenden im Generationenpark open air Filme zeigen. Am ersten Abend lief „Ask, Mark ve Ölüm / Liebe, D-Mark und Tod“ von Cem Kaya (DF 46, 2022). Schon während der Vorstellung haben Mitglieder des Bürgervereins Volkhoven/Weiler v. 1955 e.V. dem Pächter des Parks ihr Missfallen über den Film ausgedrückt. Er schüre Ressentiments gegen Deutsche. Am nächsten Tag machte der Bürgerverein von seinem Hausrecht Gebrauch und untersagte den Jugendlichen die Nutzung des Parks für weitere Vorstellungen.

Zurück zu diesem Traum, der mit den Zigaretten, den Filmfestivals und alles in schwarz-weiß. So fantasiere ich das Kino inzwischen gar nicht mehr. Mit meiner Kinofantasie bin ich zum Glück nicht allein. Sie wird an verschiedenen Orten in Deutschland ganz unterschiedlich gelebt und zeigt neue Interpretationen der „uncertain spaces“, in denen Unerwartetes entsteht. Der „safe spaces“, in denen Freiheit gelebt werden kann. Leinwände werden für Communitys geöffnet, die sich selbst oder ihren Themen, ihrer Sprache, ihren Fantasien, einen Raum geben können. Vor den Leinwänden werden eigene Filme gedreht. Alte Filme werden neu gesehen und sind Anlässe für Gespräche. In den Foyers der Kinos wird gemalt, werden leere 35-mm-Filmstreifen mit Stiften und Kratzwerkzeugenin Gemeinschafts-Filmkunstwerke umgewandelt. Neue Filme werden diskutiert, verglichen, geliebt, gehasst. Worte für den Diskurs über Film, über Ästhetik, werden nebenbei ins Vokabular aufgenommen und mit der Fachsprache des Kinos (alle MiniFilmclub-Kinder wissen was ein Projektorraum ist) vermischt. Filmvermittler:innen, leider nie fest angestellt mit sicheren Verträgen, räumen die Hürden beiseite und schaffen Zugänge. Wir Kinogestalter:innen überlassen unsere Häuser nicht den berühmten Regeln des Marktes und kämpfen mit sehr viel Engagement für diese Orte, die nicht unsere sind, sondern denen gehören, die sie brauchen.