Alexander Scholz

Eröffnungsrede 48. Duisburger Filmwoche 2024

„Das reicht doch!“ sagte ein Gast vor ein paar Wochen bei einer unserer Filmvorführungen. Wir waren im Café EDEL in Duissern und hatten dort eine Leinwand aufgebaut, um einen Film über Seenotrettung im Mittelmeer zu sehen. Der Gast war der dritte Offizier des Schiffes, das der Film begleitet. Zusammen mit einem weiteren Protagonisten war er nach Duisburg gekommen, um mit dem Publikum über den Film und über seine Arbeit zu sprechen.

Irgendwann im Gespräch fragte jemand, ob die beiden sich nicht gewünscht hätten, dass sich der Film deutlicher positioniere. Dass er mehr tue als nur beobachten. Dass er sich deutlich auf die Seite ihrer Sache stelle. Der Mann, der eben noch zu sehen war, wie er Menschen aus einem sinkenden Schlauchboot rettete, antwortete sehr klar. Nein, das fände er gar nicht. Es sei gut, dass der Film den Leuten nicht vorschreibe, was sie zu denken hätten. Man könne sich doch ein Bild machen. „Das reicht doch!“

Ich war von dieser Antwort, offen gestanden, ziemlich überrascht. Ausgerechnet jemand, der sehr hart und gegen große Widerstände für eine Sache arbeitet, wünscht sich nicht einmal, dass die Bilder auf seiner Seite stehen. Er vertraute in die offene Auseinandersetzung – im Film und danach. Dass wir zusammensaßen und sowohl über Kameraeinstellungen als auch über das europäische Grenzregime sprachen, schien dem Mann recht zu geben.

Ich habe das ganze Jahr über in Duisburg Menschen getroffen, die nach Filmen über Bilder und Wirklichkeiten reden wollten. Zum Beispiel darüber, wer in einem Film über vermeintliche Gastarbeiter:innen eine Bühne erhält oder wer wen Ausländer nennt. Oder darüber, ob man Duisburg überhaupt verfilmen kann und wie sehr eine Kamera wackelt, wenn man den Dreh in der Kneipe plant. Darüber, wie die Welt aussieht, wenn ein Film sie sortiert.

Als Festival kann man dankbar sein, dass es Filme gibt, die solche Gespräche möglich machen. Und dass es die Möglichkeit gibt, die Arbeit zu machen, sie zu finden, zu zeigen und darüber zu reden. Noch gibt, denke ich manchmal.

Denn das Reden vom Räume Teilen und das Beschwören ästhetischer Erfahrung hört sich oft nett an – wohlmeinend und sozial. Konkret ist es aber eine Arbeit im Sinne der Filmkultur, die man im Angesicht ihrer Bedrohung, zuweilen ihrer Demontage verrichtet. Statt „Das reicht doch“ möchte ich mit Blick auf die Situation häufig eigentlich lieber „Es reicht!“ ausrufen.

Denn wir haben in den letzten Monaten und Jahren viele Entwicklungen beobachtet, die die Offenheit der Kultur und des Austausches infrage stellen.

Wir haben gesehen, was eine öffentliche Sphäre, die nur den Regeln des Kapitals folgt, anrichtet: Auf virtuellen Plattformen ist die Welt vorsortiert. Spaltung ist dort profitabler als Gemeinsamkeit, Bekanntes profitabler als Entferntes. Wenn auch Politiker:innen den Kommerz der Öffentlichkeit bedienen, wird es finster in Deutschland, in Österreich, in der Schweiz – und besonders in Duisburg.

Wir haben gleichzeitig gesehen, dass gerade Kulturveranstaltungen ihren Anspruch, statt zu spalten alle willkommen zu heißen, zuweilen lieber formulieren als leben. Offen für alle, solange nicht alle kommen – lautete das Motto.

Zuletzt haben wir – viel grundsätzlicher – gesehen, was Krieg und Zerstörung anrichten. Nicht nur in der Ferne, sondern ganz nah bei uns. Wenn ich mein Büro verlasse, sehe ich auf den Fluren der Volkshochschule häufig Ukrainer:innen, die Deutsch lernen, treffe ich Menschen, die geflohen sind und nun Integrationskurse belegen. Ihr Leid und ihre Kraft sind für mich kaum vorstellbar.

Im Angesicht all dessen zeigen wir Dokumentarfilme.

Nicht weil wir naiv sind. Nicht weil Dokumentarfilme ein so toller sozialer Kitt sind. Nicht weil man bei ihnen etwas lernen kann. Und auch nicht, weil wir hoffen, dass sich nach einer ernsthaften Diskussion alle darauf einigen können, wie schön ein Film war und wie schön die Welt besser wäre.

Sondern weil sich in den Dienst des Dokumentarfilms zu stellen bedeutet, zu versuchen, selbst ein bisschen so zu werden, wie die Filme schon sind: offen, sensibel für Widersprüche, sich selbst hinterfragend, als Beteiligte schauend. Wir wollen den Raum, den Filme schaffen, offenhalten, für alle, die mitschauen und mitreden wollen.

Wir schätzen die Fragilität und den Zweifel. Und wir glauben, es braucht Erzählungen, die uns als Zuschauer:innen ansprechen und nicht als Kund:innen abholen. Solche Filme laden ein und erlauben uns als Festival, das gleiche zu tun: Sie alle einzuladen.

„Das reicht doch!“ sagen wir uns. Denn das ist viel – und unsere Aufgabe. Die Offenheit eines Festivals und des Dokumentarfilms ist politisch. Nicht in ihrer vermeintlichen Message, sondern darin, sich der Logik der Message und des Bekenntnisses zu entziehen – breiter zu denken. Genau darin haben ein Festival und der Dokumentarfilm die Chance, Menschen zusammenzubringen. Weil es noch etwas zu besprechen gibt.

Offenbar finden allerdings viele, dass das nicht reicht. Die Konsequenz dieser Sichtweise lautet etwa, die Öffentlichkeit und Offenheit von Filmkultur ganz materiell einzuschränken. Gemeinsam mit dem Sender 3sat ist der Dokumentarfilm in seiner öffentlich-rechtlichen Öffentlichkeit bedroht. Indem man am Goethe-Institut kürzt, schwächt man die internationale Vermittlung von Filmkultur. Die Liste ist lang. Die meisten, die es betrifft, sind viel kleiner als die Genannten.

Die Idee, man könne bei der Kultur sinnvoll kürzen, unterstellt derweil, es hätte bisher mehr als gereicht. Insbesondere für die Filmkultur gilt das Gegenteil. Hier wird Arbeit im Sinne einer Kunst geleistet, die mitten in der Gesellschaft stattfindet – nicht im Sinne der eigenen Selbstverwirklichung. Diese Arbeit muss man finanzieren, nicht marginalisieren.

Eine Stadt, die vier feste Stellen für zwei Dokumentarfilmfestivals einrichtet, hat davon eine Ahnung. Die Basis, auf der wir Widersprüche aushalten, ist nicht breit, aber sicher. Und das hilft, es klärt den Blick in die Zukunft.

Gegen den Trend optimistisch zu sein, ist nicht zwingend ein Charakterzug mit dem ich mich persönlich beschreiben würde. Aber es ist sehr deutlich ein Charakterzug dieses Festivals, das das Kino und die Filme liebt und sehr ernst nimmt. Das von diesem Raum und diesen Bildern seine besten Eigenschaften ableitet. Das auch sein Publikum ernst nimmt und es diesen Ort mitgestalten lässt.

Lassen Sie sich von den Filmen der 48. Duisburger Filmwoche einladen – mitzuschauen, mitzudenken und mitzureden. Das könnte schon reichen. Vielen Dank!