Alexander Scholz

Eröffnungsrede 46. Duisburger Filmwoche

Das Motto der diesjährigen Duisburger Filmwoche und doxs! lautet „im Werden begriffen“. Für mich deutet es auf die Offenheit der Filme und der Gespräche hin, die an diesem Ort möglich sind. Und es deutet darauf hin, dass sich die Festivals aus ihren Traditionen heraus weiterentwickeln und zusammen entwickeln. 

Ich will Ihnen heute einen Kern der Filmwochenhistorie nahebringen und von seinem steten Werden sprechen. Und ich will einmal nicht vom Sprechen selbst und vom Diskutieren bei der Filmwoche reden, sondern von ihren Filmen. 

1979, nach der dritten Festivalausgabe, entbrannte in deutschen Zeitungen eine sehr prägende und produktive Debatte. Sie sorgte dafür, dass sich die Duisburg Filmwoche als Ort solcher Debatten etablierte. Darin fiel ein Satz, der mich beschäftigt. 

„Den Verflachungen der dokumentarischen Form ist die Vorstellung einer „heilen Welt“ eng benachbart.“ Der Satz ist von Klaus Kreimeier. Er ließe sich auch so formulieren: Das Immergleiche muss verändert werden. Im Film und in der Welt. Bilder, die das Gesehene in Stereotypen wiederkäuen und die schon alles wissen, tragen dazu bei, dass sich nichts bewegt. Schluss mit gefühligen Mitleidsfilmen. Wir brauchen neue Bilder, Experimente wagen! scheint Kreimeier zu rufen. 

Klaus Wildenhahn schreibt daraufhin eine Replik. Einen hoffnungslosen Romantiker nennt er Kreimeier darin. Man könne die nicht ganz so heile Welt eben nicht durch anspruchsvolle Filme retten. Bildungsbürgerliche Klassenverblendung sei das. Wildenhahn findet, man müsse die Welt erst einmal zugänglich und genau beschreiben. Auch bei ihm taucht ein Satz auf, der mich nicht recht loslässt: Dokumentarfilme sollten „ihre Lücken zugeben“. Zuschauer:innen hätten so die Möglichkeit, in diese Lücken zu stoßen und an den Debatten der Filme teilzunehmen. 

Man kann sich die Positionen von Kreimeier und Wildenhahn sicher gut als Alternativen vorstellen. Die Forderung nach innovativer künstlerischer Formensprache gegen die Forderung nach einbeziehender Zeugenschaft. Sie sind auch so formuliert als erforderten sie ein Votum. Ich kann, ich will solche Entscheidungen aber gar nicht treffen. 

Die Duisburger Filmwoche ist für mich der Ort, an dem die Filme entscheiden. Ein Ort, an dem das Dazwischen vermessen wird. Wir wollen Filme zeigen, die Anlass geben, die Verhältnisse und ihre Bilder hinterfragen. Hier war und ist Platz, dieses Hinterfragen gemeinsam im Diskussionssaal zu formulieren. Die Tradition der Filmwoche, so hat Werner Ruzicka es einmal bei einer Zigarette formuliert, besteht darin, dass es hier im Idealfall gelingt „Sachen, die fragil sind, öffentlich erfahrbar zu machen.“ 

Die Filmwoche hat sich vor fünf Wochen schon mal mit ihrer Geschichte beschäftigt. Dabei haben wir zusammen mit der VHS in diesem Kino einen Film gezeigt, der ziemlich genau zwischen die Thesen von Kreimeier und Wildenhahn passt. ERINNERUNG AN RHEINHAUSEN zeigt den großen Streik in den Duisburger Stahlwerken Ende der 80er-Jahre. Wir sehen Gewerkschaftsversammlungen, Proteste, Handgriffe, den Versuch, den Stahl am Kochen zu halten. Der Film ist kompromisslos solidarisch mit der Sache der Arbeiter, ist Augenzeuge und lädt zur Teilnahme an der Debatte ein, die er zeigt. Genauso kompromisslos geht er gegen die verflachenden medialen Bilder seiner Zeit vor, wendet sich gegen das Spektakel, gegen die schnell eingeholten O-Töne, gegen die eskalierende Rhetorik von Privatfernsehen und Springerpresse. Der Film lässt Lücken für Zuschauer:innen, von Stereotypen und gefühligem Mitleid ist trotzdem nichts zu sehen.

Beides zu wollen ist kein Bekenntnis zum Relativismus, kein Schwelgen in besseren Zeiten. Natürlich sehe ich wie Sie alle, den Erfolg der verflachenden Bilder genauso wie die Indizien gegen die „heile Welt“. Wie sie alle beobachte ich die Popularität des Dokumentarischen, verstanden als „Genre“ unter anderen. Ich sehe, wie dokumentarische Bilder vorgefertigten Storys als Realitätseffekt untergehoben werden. Ich sehe wie Sensation, Selbstfindung und pathetische Bekenntnisse zum politisch kleinsten gemeinsamen Nenner Konjunktur haben. Der Wirklichkeit in ihrer irritierenden Entwicklung Platz zu geben dagegen weniger. Ich sehe, wie die Ansprache von Zuschauer:innen nicht als einbeziehendes Lückenlassen, sondern als unterforderndes Abholen gedacht wird. Und ich sehe ein System, das all das aus meiner Sicht eher begünstigt als stört. Aber ich habe keine Lust, in ein Lamento einzustimmen, das nur ohnmächtig Fakten benennt. 

„Den Verflachungen der dokumentarischen Form ist die Vorstellung einer „heilen Welt“ eng benachbart.“ An Kreimeiers Satz musste ich in letzter Zeit weniger aus Frust, sondern aus der Lust an den Filmen, die die Filmwoche in den kommenden Tagen zeigen wird, denken. Die Filme sind nicht flach, sie haben, ganz im Sinne des letztjährigen Mottos Schichten, die sich im Kino und im Diskussionssaal entblättern werden. Sie zeigen nicht eine heile, sondern in verschiedenen individuellen Sprachen viele gleichzeitige Welten.

Auch der Satz von den zugegebenen Lücken lässt mich an die Bilder denken, die wir Ihnen und Euch in den kommenden Tagen zeigen wollen. Wildenhahns Eintreten für eine gesellschaftliche Funktion des Dokumentarfilms findet man darin problemlos wieder. Der ignorante Umgang mit Opfern rechtsradikalem Terrors in Duisburg und die Geschichte des Antiziganismus, die sich gerade in Duisburg stetig fortschreibt, sind nur einige der unmittelbar drängenden Themen, die in den nächsten Tagen Resonanz finden werden.

Inzwischen ist das Verhältnis von künstlerischer Formensprache auf der einen und der einbeziehenden Zeugen:innenschaft auf der anderen Seite komplexer als 1979 – auch weil solche Diskussionen nicht mehr nur anhand von Klassengrenzen und nicht mehr nur von weißen Männern geführt werden. Höchstens von solchen zitiert. Aber auch heute gilt: Nicht die ethisch-didaktische Bekenntniskunst bewegt uns, nicht die erhaben raunende Altherrenkunst. Wir wollen diese Unterscheidung nichtmal gelten lassen. Das, was Dazwischen für Mehrdeutigkeiten sorgt, ist interessant.

Hito Steyerl hat es wie so oft am besten auf den Punkt gebracht: Dokumentarische Bilder müssen den Status quo nicht abbilden, sondern unterbrechen: „Die Gegenwart so montieren, dass sie auch anders denkbar wäre.“ Die Tradition der Duisburger Filmwoche besteht für mich darin, einen Raum zu schaffen, an dem die fragilen Sachen zwischen den beschriebenen Polen des Dokumentarischen Platz haben. Die Tradition besteht also im Werden. Im Aushandeln der Filme, die ein Aushandeln in den Gesprächen ermöglicht.

Diese Tradition ist wach. Die neuen Leitungen beider Festivals haben sie eher aus Liebe zu diesem Ort übernommen als dass sie ihnen irgendwie übergeben worden wären. Die Geschichte der Duisburger Filmwoche zu pflegen und weiterschreiben zu dürfen ist für mich ein großes Privileg und eine mindestens ebenso große Verantwortung. Und es ist Arbeit. Arbeit, die Sicherheit und Perspektive braucht. 

Die Stadt Duisburg hat das 2019 erkannt. Ihre Entscheidung, gerade am Ende der so langen wie prägenden Ära Werner Ruzicka, feste Stellen für die Mitarbeiter:innen der Festivals zu schaffen, war mutig, nicht selbstverständlich und ein sichtbares Signal an die Festivals, aus der Tradition eine Zukunft zu entwickeln. Vielen Dank für dieses Vertrauen. In unsicheren Zeiten sind diese Solidität und diese Solidarität für die Festivals von großer Wichtigkeit. Wir können unsere Arbeit jedoch nur dann weiterführen, können nur dann Traditionen fortschreiben, wenn die Stadt zu dieser Solidität und zu dieser Solidarität auch langfristig steht. Das bedeutet konkret: Nicht nur bis Ende 2023, wenn die Verträge der aktuellen Teams enden, sondern darüber hinaus.

Klaus Wildenhahn sagt am Ende seines Textes etwas über Filme, was auch auf Festivals gemünzt werden kann: „Eine Verarmung von Orten, die Gegenwart aufzeigen, bedeutet eine Schwächung von Zukunft.“ Auch Kreimeier schreibt am Ende seines Textes einen Satz über Filme, der sich ebensogut auf Festivals, auf die Filmwoche anwenden ließe. Er fasst sich dabei aber etwas optimistischer: in ihnen werde eine „Kunst der Vermittlung“ erfahrbar, man werde „Teil einer prozesshaften Wirklichkeit“. Ich lade Sie alle ein, am Werden der Filmwoche, ihrer Filme und ihrer Diskussionen teilzunehmen. Vielen Dank.