Jugendliche wählen historische Filme aus, die das Festivalmotto umspielen. In einem recherchiert Volko Kamensky zu Kreisverkehr-Mittelinseln: Auf ihrer Umlaufbahn gleitend, huldigt er zu romantischer Musik ihrer funktionalen Ästhetik, erkundigt sich bei Experten telefonisch nach ihrer Geschichte, ihrer Philosophie. Wir lernen: Dort, wo der Kreis die Ordnung vorgibt, wo die Bewegung nicht aufhört, finden Blick und Gemüt endlich Ruhe und Halt. Und: Straßen verbinden. Auch bei Rainer Komers sind Verkehrswege Anlass und Mittel zur Wahrnehmungsübung. Wie ein Fließband verbindet die Bundesstraße 224 Stationen entlang ihrer Strecke. NRW-Core: Wir sehen Schlote, Camper, Menschen im Rhythmus von Maschinen, hören das Klirren von Metall und Glas. Eine fast rastlose Gegend als Messinstrument für unsere Aufmerksamkeit.
B224
von Rainer Komers / DE 1999 / 23′
Divina Obsesión
von Volko Kamensky / DE 1999 / 28′
Protokoll
Im Jahr des Über-Mottos „Halt“ fiel die Wahl der Jugendlichen heuer auf eine Straßen-Double-Bill: Mit Rainer Komers‘ B224 und Volko Kamenskys DIVINA OBSESIÓN fanden zwei 1999 fertiggestellte Filme ihren Weg ins Programm der Duisburger Klassik. Beim Screening führen Mika Kleffner und Martha Leidorf vom Kurator*innentrio, Samira Yartaoui soll bahnbedingt etwas verspätet noch hinzukommen.
1999 gab es bei der Duisburger Filmwoche auch noch die Personalstelle: Vorhangpersonal. Eine Person saß drinnen neben der Saaltür des Filmforums und stellte sicher, dass der Lichteinfall vom Gang in den Saal minimal blieb. 26 Jahre später ist eine Person in der hinteren Mitte des Auditoriums so fasziniert von den unterschiedlichen Gegenden, in die Komers auf seiner Reise von der Bundesstraße B224 abschweift, dass sie immer wieder mit dem blitzhaften aufleuchten ihres Mobiltelefons Schnappschüsse von der Leinwand für den Hinterteil des Saals nach-be-bildet.
Auf Bildschirm und Leinwand zu erkennen sind Bilder von Gänsen, Badenden und Kohlekraftwerken. Bilder von prozessualer Arbeit: Berge von Sektflaschenmüll, Altglaszerkleinerung, Glasflaschenerzeugung, vom Messerschleifen und Rasieren, von Farben und Druckerpressen.
Nach dem Film gibt es eine kurze Pause, um zwei Fauteuils auf die Bühne zu bringen, auf denen Komers und Leidorf nun Platz nehmen. Es sieht bequem aus.
Warum die B224? – will Leidorf wissen. Komers wollte nach einem materiell aufwändigen Dreh, bei dem er „dreißig Betacam-Kassetten veballert“ habe, für dieses Projekt „einmal reduzieren.“ Er dachte „lass‘ einfach einmal was weg“. Und anstatt sich diesmal an einer „sozialen Gruppe festzubeißen“ überlegte er, was er in seiner unmittelbaren Nähe – Komers kommt aus Mülheim a. d. Ruhr – machen könne. Da ihm die nahe B1 zu langweilig erschien, entschied er sich für die B224 (Münsterland – Solingen) und gab sich einen 4km Radius als Freiheit. Er erzählt vom Dreh in der lauten Müllverbrennungsanlage, in der heißen Glasfabrik und dem Gänsezüchter, den er beim Vorbeifahren entdeckt hat: „Da sieht man auf 35mm, der hat da geschlafen und man sieht noch die Abdrücke“. Der meinte: „hoffentlich seid ihr nicht vom Finanzamt!“
Auf zwei darauf folgende Fragen nach der genauen Drehplanung und der Menge an Material antwortet Komers, er fühlte sich „wie ein Fotograf mit einer riesen Nassplattenkamera“ – er habe mit einer Kamera „laut wie eine Nähmaschine“ gedreht und den Ton separat aufgenommen. Er habe die Orte vorrecherchiert, aber die Reduktion auf Analogfilm „tat ihm gut“. Zum Abschluß des Gesprächs kommt noch eine Frage zur Szene im Warner Bros. Movie Park in Bottrop-Kirchhellen: Komers wusste, dass dort ehemalige Bergleute als Parkplatzwächter arbeiteten und das Land NRW viel investierte, um die internationale Filmindustrie anzulocken. Nach einem sechsstündigen Dreh einer Movie Park Show – ein Bankraub mit Verfolgungsjagd – mit „Aufpassern von WB“ erinnert Komers einen Kunststoff-Bugs Bunny im Backstage-Bereich, der mit der Aufschrift „Smile, you’re on stage!“ die Fassade der Shows und damit auch den Schein und das Sein des Parks selbst konterkarierte.
Es folgt die Vorführung von Volko Kamenskys DIVINA OBSESIÓN. Nach dem Film setzen sich der Regisseur sowie Mika Kleffner und Samira Yartaoui auf die roten Sessel. Kleffner möchte auch von Kamensky wissen, wie vorgeplant seine filmische Reise durch die Kreisverkehre war, oder ob er einfach „drauf los“ gefahren sei? Und warum wurde in Frankreich gedreht? Kamensky erzählt: Nach seinen Teenagerjahren in Frankreich kam er 1995 nach vielen Jahren wieder zurück und sah, dass sich die Straßen um „tausende Kreisverkehre“ verändert hätten. Zuerst drehte er mit einer Super-8-Kamera, dann kam er ein Jahr später mit Freunden aus Belgien und einem „Citroën mit ganz toller Federung“ zurück und sie fuhren in Nordfrankreich insgesamt 3000 km ab. Die Route wurde spontan entschieden. Einer fuhr, eine Mitfahrerin saß am Beifahrersitz und maß die Belichtung und er filmte „von der Rückbank im Liegen“ – mit fünfzig Bildern pro Sekunde – die Kreisverkehre.
Auf eine Frage von Yartaoui über die im Film vorkommenden Telefonate mit Kreisverkehrsexperten meint Kamensky, dass er zunächst keine Gespräche geplant hatte und die Bilder nur mit Musik hinterlegen wollte. Nach gemischten Reaktionen durch sein Testpublikum entstand dann die Notwendigkeit nach etwas Neuem – eben über diese Telefonate – zu suchen.
Eine Stimme aus dem Publikum attestiert der Musik im Verbund mit den ernsthaften Telefongesprächen eine gewisse Komik. Kamensky bestätigt diese Ansicht – er wollte mit Ambivalenz und kindlichem Spaß den „alten Männern“ am Telefon „etwas entgegensetzen“.
Kleffner spricht das Alter des Films an und fragt, ob sich Kamenskys Perspektive zu diesem verändert hat? Kamensky bemerkt „wie stark“ der Film aus seiner Zeit ist – die Animationen der Kreisverkehre am Ende des Films waren „damals State of the Art.“ Für ihn habe das allein ein Jahr an Rendern auf Power Macs in Anspruch genommen – so eine Arbeitsweise „können man heute kaum mehr entschlüsseln“. Auch gab es nicht viele Publikationen zu Kreisverkehren, da habe sich in den letzten 26 Jahren einiges verändert. Er erwähnt unter anderem CG Jung und dass „wenn Menschen in einer Krise seien“, diese sich oft an Kreise (wie Mandalas oder UFOs) klammerten.
Es folgen einige kurze Klärungsfragen, die im folgenden als Antwortrevue gerafft wiedergegeben werden sollen: Die Telefonexperten haben den Film auf Videokassette zugeschickt bekommen, wobei einer ihn wieder zurückschickte; es gab einen vierten Experten, der aber zu sehr stotterte und dessen Beitrag es nicht in den Film schaffte; die Musikrechte wurden erst später geklärt, daher sind sie nicht in den Credits gelistet; bei den vielen Kreiselfahrten in den Kreisverkehren hatten sie ein Schild am Heck angebracht mit „bitte nicht überholen“; den spanischen Filmtitel klaute er von einer venezolanischen Telenovela; die Postkarten im Film stammen aus Kamenskys Privatarchiv und waren seine Bildrecherche in einer Zeit noch „ohne Google-Bildersuche“.
Kurz vor Diskussionsende entsteht aus ebendiesen Postkarten noch eine Bemerkung zum strukturellen Überbau und der Inspiration des Films: Kamensky erläutert, es habe ihn – auf eine im Film zu sehende Postkarte mit absolutistischer Gartenbaukunst verweisend – diese „göttliche Besessenheit“ beschäftigt. „Diese direkte Verbindung“ zwischen den Garten-Achsen und Gott, in denen der Kreis in der Mitte an den absolutistischen Herrscher erinnern sollte, dass er – doch – ein Mensch und nicht selbst göttlich sei. Dieser Habitus der „natürlichen Verantwortung“, dass höhere Mächte das angeregt hätten, also Kreisverkehre einer „natürlichen Logik“ folgten, kamen ihm bei den Gesprächen mit den Experten oft unter.