Synopse
Als 2016 in München neun Menschen erschossen werden, steht das Narrativ schnell fest. Eilig wird es mit einem Denkmal zementiert: Amoklauf eines Einzelnen, kein rassistisches Attentat. Die Inschrift wird zum Indiz und Streitobjekt – die Trauer der Hinterbliebenen verbindet sich mit Wut: „Warum fällt es so schwer, die Wahrheit zu sagen?“
2019 ermordet ein Rechtsextremist in Halle zwei Menschen. Einer von ihnen ist Kevin. Während die Öffentlichkeit den Prozess gegen den Mörder verfolgt, sucht Kevins Vater nach Worten. Im Rauch seiner Zigarette sammelt sich der Schmerz. Nur der Hallesche FC dringt in das Vakuum, das der Verlust hinterlassen hat, vor. Rot-Weiß für immer allein.
Der Wagen des Attentäters parkt noch draußen vor dem Haus. Drinnen ein Vater, der nicht mit seinem Sohn, sondern mit den Hinterbliebenen hadert. Sechs der neun Opfer starben 2020 in Hanau-Kesselstadt. Das Viertel eint die Empörung über das Versagen der Behörden und der Trotz: „Wenn wir wegziehen, geben wir dem Mörder, was er haben will.“
Protokoll
Geschichte wiederholt sich nicht. Wer aber die Gelegenheit nutzte, sich Julian Vogels „Einzeltäter“-Trilogie an einem Stück im Kino auszusetzen, erlebte trotzdem viele Déjà-vus. Erinnerung an den NSU und das Versagen von Regierung, Polizei und Medien, die viel zu lang die rechtsextremistischen Motive nicht erkannten oder erkennen wollten, kommen in den Sinn. Auch die Protagonist:innen – alle sind Angehörige der Opfer, die bei den rassistischen Anschlägen in München (22. Juli 2016), Halle (9. Oktober 2019) und Hanau (19. Februar 2020) ermordet wurden – ziehen immer wieder diesen Vergleich.
Ich schreibe davon, sich diesen Filmen auszusetzen, weil es etwas mit mir gemacht hat, mich 239 Minuten lang in diese Menschen und in ihren individuellen Umgang mit ihren Verlusten einzufühlen: in ihren Schmerz, ihre Trauer, die ich nur erahnen kann und ihre Wut – die auch ich beim Verlassen des Kinos spüre. Während ich um angemessene Worte ringe, erinnere ich mich an ein Zitat von Julian Vogel aus der Diskussion: „Die Filme sind nicht dazu da, um zu zeigen, dass ich alles richtig gemacht habe. Es geht hier nicht um meine Befindlichkeiten.“ Eine Haltung, die mir als Orientierung dient.
Die Klammer der Trilogie bilden die drei Anschläge, die Chronologie der Ereignisse führt aber zu jeweils anderen Schwerpunkten. Im ersten Teil geht es um den Anschlag in München, bei dem neun Menschen mit einem sogenannten Migrationshintergrund ermordet wurden. Das Wort stößt mir auf, mir fällt kein treffenderes ein um auszusagen, dass diese Menschen nur starben, weil sie äußerlich nicht ins Weltbild des Mörders passten. Vor allem aber geht es darum, wie schnell sich in München das Narrativ eines psychisch verwirrten Einzeltäters durchsetzte und Teil des öffentlichen Erinnerns wurde. Die Betroffenen wurden nicht gefragt. Sibel und Hasan Leyla, die ihren Sohn Can bei dem Anschlag verloren haben, kämpfen jahrelang dafür, dass die Tat als rassistisch anerkannt wird, was ihnen lange verweigert wird. Durch die Bayrische Regierung, die Stadt und die Polizei, die nichts dazu gelernt haben. Erst als drei Jahre später ein anderer „Einzeltäter“ in Halle daran scheitert, die Tür einer Synagoge für sein geplantes Massaker aufzubrechen und stattdessen Kevin Schwarze und Jana L. ermordet, bewegt sich in München etwas.
Im zweiten Teil steht Kevins Vater Karsten im Mittelpunkt, der keine politischen Kämpfe ausficht, sondern trauert. Kein Jahr später tötet ein weiterer Rechtsextremist in Hanau ebenfalls neun Menschen mit Migrationsgeschichte und danach sich selbst. Der Vater des Täters lebt weiterhin in der Nachbarschaft. Für die Hinterbliebenen wie Çetin Gültekin und Serpil Unvar ist das unerträglich. Gemeinsam mit anderen Angehörigen und überlebenden Opfern engagieren sie sich in der politischen Anti-Rassismusarbeit. Diese Beziehungen und ihr Wirken in der Öffentlichkeit stehen im dritten Teil im Mittelpunkt. Außer Kevins Vater berichten alle Protagonist:innen von Rassismuserfahrungen, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleiten. Serpil Unvar wiederholt im Film mehrfach „Unsere Kinder sind euch weniger wert. Deswegen ist die Polizei auch nicht so schnell gekommen“. Ich möchte ihr widersprechen, weiß aber, dass sie recht hat.
Auch Sibel Leyla und Karsten Lissau sind seit dem ersten Teil im Publikum gewesen, im Diskussionsraum sitzen sie in der ersten Reihe, auf die Bühne wollen sie diesmal nicht. Schnell wendet sich Vogel an sie: „Ihr seid die Menschen, die das am wenigsten tun müssen sollten. Es ist nicht richtig, dass ihr diese Kämpfe kämpfen müsst. Deshalb sind wir euch unendlich dankbar, dass ihr es trotzdem tut“. Wie sie es schaffen, jeden Morgen aufzustehen und dieses Land und die Gesellschaft nicht zu hassen, will nicht in meinen Kopf. Ich glaube, ihre Größe und ihre Geduld könnte ich nicht aufbringen.
Wir alle wirken erschlagen. Auch Alexander Scholz ringt um den richtigen Ton und versucht behutsam in das Gespräch einzusteigen. Fragt, wie sich das Projekt entwickelt habe und der Kontakt zu den Angehörigen zustande gekommen sei. Vogel erklärt, er wollte dem „Amoknarrativ“ etwas entgegensetzen. So richtig habe das aber niemanden interessiert. „Es ist ein Skandal, dass erst Halle passieren musste, damit sich in München was bewegt und sich jemand für das Projekt interessiert.“ Erst dann war es Vogel möglich, das Geld beim ZDF zu akquirieren, um aus 100 Stunden Material drei Filme machen zu können. Der Kontakt zu den Angehörigen kam durch Anwälte zustande, ihre Skepsis sei aber anfangs groß gewesen. Viele Betroffene vertrauen nachdem, was sie erlebt haben, weder der Polizei, noch dem Staat oder den Medien.
Scholz und Vogel streifen die filmischen Mittel, es geht ein wenig um die Montage, eine Ästhetik der Schwere oder sich wiederholende Schwenks. Aber das Gespräch und auch die Fragen des Publikums kehren immer wieder zum Inhalt zurück. Eine Frau stört sich daran, dass die potentiellen Opfer in der Synagoge keine Stimme erhalten haben. Vogel erklärt, dass die Juden und Jüdinnen, die die Synagoge regelmäßig besuchen, dazu nicht bereit gewesen seien. Es wird auch gefragt, ob die im Titel aufgegriffene These des „Einzeltäters“ nicht hätte genauer analysiert und dekonstruiert werden müssen. Vogel verteidigt seinen konsequent subjektiven, sich auf die Angehörigen und ihre Perspektive konzentrierenden Blick. Die Täter zu psychologisieren oder die Gründe für solche Taten zu beleuchten war nie sein Interesse.
Sich Filmen wie diesen auszusetzen und Opfern und Betroffenen zuzuhören, ist das mindeste, was wir als diejenigen tun können, die nicht von Rassismus oder Antisemitismus betroffen sind. Es ist unsere Aufgabe, immer wieder aufzustehen, laut zu sein und uns an die Seite von und schützend vor diejenigen zu stellen, die marginalisiert und bedroht werden. Immer, jederzeit und überall. Ein Appell, den Vogels Filme und die Diskussion mehr als deutlich gemacht haben.
Foto: Maria Kotylevskaja